Niger: Wenn es keine Ernte gibt
Edriss Haruna wird von hohem Fieber geschüttelt und hat schweren Durchfall. Sein kleiner Körper ist ausgezehrt. Seine Mutter Harira Mohamed hat ihn vor drei Tagen in das Distriktkrankenhaus in Diffa im Osten des Nigers gebracht. Sie sitzt an seinem Bett, streichelt sanft über seinen Kopf. Auch heute Nacht wird sie nicht von seiner Seite weichen.
„Wir sahen sofort, wie schlecht es Edriss geht“, erinnert sich unsere Kinderärztin Faïza Ouedraogo an seine Ankunft. Der Zweijährige war so schwer mangelernährt, dass er keine Kraft mehr hatte, sich gegen zusätzliche Erkrankungen zu wehren. „Wir gaben ihm schnell Antibiotika und Medikamente gegen Parasiten, zudem Vitamine und Zink.” Edriss brauchte zudem dringend Nährstoffe. Das Team auf der Intensivstation legte ihm eine Magensonde und versorgte ihn mit therapeutischer Spezialmilch. „Dabei mussten wir ganz vorsichtig vorgehen und mit winzigen Portionen starten, um seinen Körper nicht zu überfordern“, so unsere Kinderärztin.
Immer mehr mangelernährte Kinder
Auch drei Tage nach seiner Einlieferung reagiert Edriss kaum auf seine Umgebung. Behutsam berührt Ouedraogo den Jungen und beginnt, seinen Oberkörper abzutasten. Sie prüft die Haut in seinem Gesicht, an den Armen und Beinen. An vielen Körperstellen ist sie wund und brüchig - eine typische Folge des Nährstoffmangels.
Wie Edriss sind die meisten Kinder auf der Intensivstation schwer mangelernährt. Sie alle sind zusätzlich etwa an Lungenentzündung oder Malaria erkrankt. „Wir haben in den vergangenen Monaten im Schnitt 300 bis 400 akut mangelernährte Kinder behandelt“, so Ouedraogo. Sie ist im vergangenen Jahr aus ihrer Heimatstadt Ouagadougou in Burkina Faso nach Diffa gekommen, es ist ihr erster Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen. Gemeinsam mit einem weiteren Kinderarzt leitet sie dort das pädiatrische Team.
Krise mit vielen Gründen
Auf dem Krankenhausgelände steht die heiße Luft, wer kann, sucht im Schatten Schutz vor der sengenden Sonne. Der Boden ist staubig, kaum ein Strauch wächst hier. „Normalerweise können wir von der Landwirtschaft leben. Aber nicht jedes Jahr. Auch diesmal kam der Regen spät. Dann ernten wir wenig und haben Mühe, mit den Vorräten bis in die nächste Saison zu kommen“, berichtet Nafisa Mutari, Landwirtin und Mutter eines weiteren kleinen Patienten von uns im Niger.
Das Land liegt in der Sahelzone, wo Mangelernährung ein wiederkehrendes Problem ist. Weitere Faktoren verschärfen die Not: Die Trockenheit nimmt infolge des Klimawandels zu, die Wüste breitet sich aus und lässt die Fläche fruchtbaren Landes immer mehr schrumpfen. Zugleich treten Starkregen und Überflutungen immer häufiger auf und vernichten die Ernte. Erschwerend kommt hinzu, dass Lebensmittel aufgrund von Spekulationen auf dem Nahrungsmittelmarkt knapp werden und längst so teuer sind, dass viele Menschen sie nicht mehr bezahlen können – während immer weniger internationale Hilfen den Niger erreichen. Denn während der Covid-19-Pandemie flossen viele Gelder in deren Bekämpfung. In neuen Krisenländern wie der Ukraine brauchen Millionen weitere Menschen Hilfe, sodass dringend mehr internationales Engagement nötig ist.
Zu alledem überziehen bewaffnete Gruppen wie Boko Haram oder der sogenannte Islamische Staat weite Teile des Nigers mit Gewalt. „Die Menschen wagen es nicht mehr, ihre Felder zu bestellen – zu groß ist das Risiko, dort überfallen oder entführt zu werden. Oder aber sie müssen fliehen und ihr Vieh zurücklassen. Dadurch geht ihre wichtigste Lebensgrundlage verloren“, so Ouedraogo. Auch Edriss‘ Familie musste vor Gewalt fliehen und lebt in einem Camp, etwa 70 Kilometer nördlich von Diffa. Rund 250.000 Menschen suchen in der Region Zuflucht.
Einsatz in drei Kliniken
All dies hat zu einer dramatischen Situation geführt: Viele zehntausende Kinder im Niger sind akut mangelernährt. Ärzte ohne Grenzen hilft an drei Orten, in Diffa im Osten sowie in Magaria und Madarounfa im Süden. Das Einzugsgebiet aller drei Kliniken reicht dabei über die Grenzen des Niger hinaus. Viele Eltern bringen ihre Kinder aus dem Tschad oder Nigeria in die Gesundheitseinrichtungen, um sie behandeln zu lassen – weil es auch in ihrer Heimat an der notwendigen Versorgung fehlt.
„Wir hatten gar nicht genug Betten für so viele schwerkranke Kinder“, so unsere Kinderärztin. „Also haben wir zusätzlich zu den Krankenstationen Zelte errichtet, um alle Patient*innen versorgen zu können.“ Die meisten sind zwischen zwei und fünf Jahren alt, denn Mangelernährung gefährdet vor allem die Kleinsten. „Wir müssen zunächst den Stoffwechsel stabilisieren. Erst dann kommt der Appetit zurück und wir können anfangen, gehaltvollere therapeutische Nahrung zu verabreichen.“
Mit ganzem Herzen
Nach zehn Tagen kann das Team auch Edriss von der Intensivstation auf die reguläre Kinderstation verlegen. Dort setzen unsere Mitarbeitenden die Behandlung fort und gewöhnen ihn an feste Nahrung. „Als ich heute zur Visite kam, hat Edriss mich schüchtern angelächelt. Wir werden ihn bald nach Hause entlassen können“, so Ouedraogo.
Der Junge wird seine Behandlung noch mehrere Wochen ambulant fortsetzen und für Folgeuntersuchungen in ein nahegelegenes Gesundheitszentrum kommen. „Dabei zuzuschauen, wie Edriss mit jedem Tag gesünder wird, berührt mich sehr“, sagt unsere Kinderärztin. „Dies ist es, was mir die Kraft gibt, für meine Patient*innen da zu sein - mit all meinem Können und meinem ganzen Herzen."