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Darien-Dschungel: Tödliches Nadelöhr

Ein offener Lastwagen fährt schwerfällig auf den Schotterplatz. Etwa 30 Menschen steigen von der Ladefläche herab - sie stehen inmitten der Aufnahmestation für Migrant*innen San Vicente in Panama. Viele haben nur das bei sich, was sie am Leib tragen, manche nicht einmal Schuhe. Ihre Haut ist von Moskitos zerbissen, die Füße vieler sind blutig, einige können kaum noch gehen. Unter den Menschen befindet sich das Paar Hernán Betancourt und Mariana Tablante mit ihrer kleinen Tochter.

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Das Paar Hernán Betancourt und Mariana Tablante wartet mit ihrer kleinen Tochter in der Aufnahmestation für Migrant*innen in San Vicente, in Panamá.
Das Paar Hernán Betancourt und Mariana Tablante wartet mit ihrer kleinen Tochter in der Aufnahmestation für Migrant*innen in San Vicente, Darién, in Panamá.

Alle drei sind von Staub bedeckt. Hernán trägt einen schweren Rucksack, der alle Habseligkeiten der Familie enthält - Kleidung, Kochgeschirr und Papiere. Mariana hält die Tochter im Arm. In ihren Gesichtern liegt neben der Erschöpfung auch ein Hauch Erleichterung: Wir haben es geschafft - zumindest für den Moment. 

Endlich eine Atempause 

Dass sie bis hierhergekommen sind, ist nicht selbstverständlich. Die junge Familie war sieben Tage im Daríen-Dschungel unterwegs und wurde in dieser Zeit zweimal überfallen. Die letzten drei Tage aßen sie nur das, was sie fanden - meist Bananen und Avocados - und tranken Flusswasser.  

Mariana hatte auf dem Weg nicht nur ihre eigene Tochter gestillt, sondern auch das Kind einer anderen Frau, die keine Milch mehr geben konnte. Sie ist geschwächt und dehydriert. Ihre größte Sorge aber gilt ihrer Tochter: War die kleine Menge an Muttermilch und Kochbananen für sie in den vergangenen Tagen genug? Die Familie geht für eine Untersuchung zum Sanitätszelt von Ärzte ohne Grenzen. 

Zuhören schafft Geborgenheit 

Lucía Lázaro steht am Eingang des Zelts. Bevor die Ärztin den nächsten Patienten aufruft, wandert ihr Blick über den Schotterplatz bis hin zu den Plastikhütten und Zelten, die sich am anderen Ende befinden. Die Sonne glüht über dem Gelände - jeder hier schwitzt. Das Sanitätszelt liegt am Rande der Aufnahmestation für Migrant*innen. Durch zwei Ventilatoren, die sich in dem rund 20 Quadratmeter großen Raum drehen, ist die Temperatur fast erträglich. 

Zwei schwarze Tücher trennen das Zelt in kleinere Bereiche. Lucía führt den Patienten in den hinteren Teil und hört seinen Brustkorb ab, offenbar hat er eine Atemwegsinfektion. Nebenan klagt ein Vater über Gliederschmerzen und sein Sohn hat einen Hautausschlag.

Gegenüber von Lucía reinigt und verbindet ihr Kollege und Krankenpfleger Martín Buenache die tiefe Schürfwunde am Schienbein eines Patienten. In all der Geschäftigkeit entsteht durch die leisen Gespräche eine besänftigende Ruhe. „Wir sehen auch viele Menschen mit psychischen Beschwerden,“ sagt Lucía. Am Tag zuvor hatte eine Patientin von sexualisierter Gewalt berichtet, die sie auf dem Weg erlebt hatte. „Für manche ist unser Zelt seit langem der erste Ort, an dem sie sich sicher genug fühlen, um zu weinen“, berichtet die Ärztin. 

Das Team von Ärzte ohne Grenzen versorgt durchschnittlich 150 Personen am Tag. Der Wartebereich der Klinik ist fast immer voll. „Komplexe Fälle oder Menschen, die schwer erkrankt sind, überweisen wir an ein lokales Krankenhaus“, sagt Lázaro. Die meisten Patient*innen sind nur kurz in San Vicente. Sie wollen schnell weiter in Richtung USA. 

Mehr als 100 Kilometer unwegsames Gelände  

In der Klinik erhält Mariana Tablante Nahrung und eine Creme, um den Juckreiz der Moskitostiche zu lindern. Die Erleichterung der Mutter ist groß, als ihr die Ärztin erklärt, dass ihrer Tochter nichts fehlt. Die Familie hatte Glück. „Der Weg durch den Darién-Dschungel ist gefährlich”, sagt Lucía Lázaro. „Die direkteste Route geht 100 Kilometer durch unwegsames Gelände, 5.000 Quadratkilometer schroffe Berge und reißende Flüsse. Es gibt Spinnen, Schlangen und Raubkatzen. Und als wäre das nicht schwierig genug, sind bewaffnete Banden in diesem Gebiet unterwegs.”  

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Eine Gruppe von Migrant*innen, die nach der Überquerung des Dschungels von Darien im Aufnahmezentrum von San Vicente ankommt.
Eine Gruppe von Migrant*innen, die nach der Überquerung des Dschungels von Darien im Aufnahmezentrum von San Vicente ankommt.
© Santiago Valenzuela/MSF

Ärzte ohne Grenzen begann im vergangenen Jahr in Panama zu arbeiten, weil die Anzahl von Migrant*innen, die den Dschungel durchquerten, enorm zugenommen hatte. Aktuell wagen monatlich rund 2.500 Menschen die Durchquerung des Darién, unter ihnen auch viele Familien. An manchen Tagen kamen in diesem Jahr bis zu 600 Menschen in San Vicente an – viele kommen aus Südamerika, aber manche auch von so weit her wie Ghana oder Pakistan.  

„Wir konnten dort nicht bleiben“ 

Hernán Betancourt und Mariana Tablante verließen ihr Heimatland Venezuela im April. Das Paar hatte es geschafft, in einem Jahr 87 Dollar zu sparen – ein schwieriges Unterfangen in Venezuela, wo seit Jahren enorme Inflation herrscht und der Mindestlohn zuletzt auf 21 Dollar im Monat gesunken war. Und dennoch lange nicht genug für die Reise in die Vereinigten Staaten.

„Wir wussten, dass es nicht genug war. Aber in Venezuela konnten wir nicht bleiben“, sagt Hernán. „Meine Mutter braucht Insulin und wir konnten es uns nicht leisten, immer häufiger gingen wir hungrig ins Bett - so ging es nicht mehr weiter.“ Sechs Millionen Menschen haben Venezuela in den letzten fünf Jahren bereits verlassen.  

Beeindruckende Resilienz 

„Der Darién-Dschungel ist nur ein Stück des Weges“, sagt Ärztin Lázaro. Von San Vicente bringt ein Bus die Menschen an die Grenze zu Costa Rica – vorausgesetzt, sie können die 40 Dollar Fahrgeld aufbringen. Doch auch ab dort liegt noch ein langer und gefährlicher Weg vor ihnen: Die Strecke durch Zentralamerika und Mexiko führt durch eine Region, in der bewaffnete Banden großen Einfluss haben, wie etwa die Maras in El Salvador und Honduras und verschiedene Drogen-Kartelle in Mexiko. „Migrant*innen sind besonders gefährdet, entlang des Weges Gewalt zu erfahren, weil sie kaum geschützt werden“, erklärt Lázaro. Deshalb ist Ärzte ohne Grenzen an verschiedenen Punkten der Migrationsrouten mit mobilen Kliniken aktiv. „Wir haben auch eine Hotline eingerichtet, um in Notfällen akut psychologische Hilfe zu leisten”, sagt die Ärztin. „Wir arbeiten dabei grenzüberschreitend zusammen.“ 

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Die Karte zeigt die medizinischen Aktivitäten entlang der Migrationsroute in Mexiko und Zentralamerika auf.
In Zentralamerika und Mexiko haben wir an verschiedenen Punkten entlang der Migrationsroute Projekte eingerichtet, um Menschen in Not medizinisch und psychologisch beistehen zu können.
© MSF

Hernán und Mariana haben nicht die Mittel für die Weiterfahrt. Sie bleiben zunächst in San Vicente und müssen sich das Geld für das Ticket erst verdienen. „Die Menschen, die ich hier getroffen habe, beeindrucken mich zutiefst”, sagt die Ärztin Lucía Lázaro. “Ihr Durchhaltevermögen und ihre Resilienz sind enorm - es macht mich froh, dass wir ihnen zumindest für einen Moment beistehen können."