Schlangenbisse: Die Gefahr lauert am Boden
Ein stechender Schmerz in der Stirn: Nach einem Schlangenbiss fürchtet Workey Mekonen um ihr Leben. Für die Erntezeit hat die Wanderarbeiterin ihre Heimat verlassen und ist nach Amhara im Nordwesten Äthiopiens gekommen. Dort kocht sie tagsüber für die Landarbeiter und schläft nachts in einem Schuppen bei den Feldern. Eines Nachts wird sie unsanft geweckt.
Ein stechender Schmerz in der Stirn lässt Workey Mekonen aufschrecken. Am Boden des offenstehenden Schuppens sieht sie eine kleine Schlange davonkriechen. Dem Schreck folgen schon bald starke Schmerzen und eine Schwellung im Gesicht, die Workey Mekonen um ihr Leben fürchten lassen. Die 24-jährige Frau kommt seit dem Tod ihres Mannes vor vier Jahren für die Erntezeit nach Amhara, um dort etwas Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. Ihre vier Kinder leben währenddessen bei ihrer Schwester in Tigray, eine halbe Tagesreise entfernt.
Die entlegene Region Amhara im Norden Äthiopiens ist bekannt für fruchtbare Böden und riesige kommerzielle landwirtschaftliche Betriebe. Sesam, Hirse, Baumwolle und andere Feldfrüchte werden dort angebaut. Auf der Suche nach Arbeit macht sich jedes Jahr etwa eine halbe Million Landarbeiter aus dem Hochland Äthiopiens auf den Weg zu den Farmen in der Tiefebene im Umland der Stadt Abdurafi. In der Region sind auch etwa 20 verschiedene Giftschlangen heimisch und während der Erntezeit begegnen die Landarbeiterinnen und Landarbeiter ihnen fast täglich.
„Entscheidend sind die ersten zehn Minuten“
Nach dem Schlangenbiss bringen Landarbeiter Workey Mekonen zu ihrem Onkel, der in der Nähe wohnt. Er weiß von unserer Klinik in der Stadt Abdurafi, wo wir Menschen mit Schlangenbissen kostenlos behandeln, und bringt Workey dorthin. Bei ihrem Eintreffen ist ihr Gesicht bereits so stark angeschwollen, dass sie nichts mehr sehen kann. Wir behalten sie gleich zur Untersuchung da. Das Ergebnis des Bluttests ist eindeutig: keine Blutgerinnung, ein klares Anzeichen dafür, dass die Schlange ihr Gift abgegeben hat und Workey ein Gegengift braucht. Unser Krankenpfleger Degifew Dires bereitet die Infusion vor. Mehr als zwei Stunden verbringt er damit, das Gegengift Tröpfchen für Tröpfchen in Workeys Armvene zu injizieren. „Entscheidend sind die ersten zehn Minuten. Alles muss genauestens überwacht werden, damit es keine gefährliche Reaktion auf das Gegengift gibt“, sagt Degifew. „In den kommenden Stunden überprüfen wir regelmäßig den physischen Zustand der Patientin und ihre Vitalfunktionen.“
Betroffenen fehlt Zugang zu medizinischer Hilfe
Der überwältigende Teil der Menschen, die von Vergiftungen durch Schlangenbisse betroffen sind, lebt in Gemeinden, die von Ackerbau und Viehzucht leben. Jedes Jahr werden rund 2,7 Millionen Menschen von Giftschlangen gebissen. 100.000 sterben daran und weitere 400.000 tragen bleibende Gewebeschäden und Behinderungen davon. Somit sterben an Schlangenbissen mehr Menschen als durch jede andere Krankheit auf der Liste vernachlässigter Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
„Workey ging es bald besser und nach fünf Tagen konnten wir sie vollständig genesen wieder entlassen“, sagt Dr. Ernest Nshimiyimana von Ärzte ohne Grenzen. „Sie hatte Glück, dass sie rechtzeitig zu uns gebracht wurde und das Gegengift gewirkt hat.“ Nicht alle Menschen, die in Äthiopien von einer Schlange gebissen werden, haben die Möglichkeit. Gegengifte zur Behandlung von Schlangenbissen sind für viele unerreichbar. „Bedauerlicherweise sind wirksame Gegengifte in den meisten Landesteilen entweder nicht verfügbar oder zu teuer für die Gemeinden, die am stärksten von Schlangenbissen betroffen sind“, sagt Dr. Nshimiyimana.
Schlangenbissen schutzlos ausgeliefert
Arbeitsmigrantinnen und -migranten sind besonders stark gefährdet. Oft arbeiten sie barfuß und bei Nacht auf den Feldern. Sie ernten mit bloßen Händen. Besonders gefährlich sind die Felder, auf denen Sesam angebaut wird. Die Pflanzen wachsen nicht besonders hoch, aber sehr dicht und sind ein ideales Versteck für Schlangen. Um die Körner zu ernten, müssen die Arbeiter in die Hocke gehen, wobei ihre Hände und Füße zur Angriffsfläche für Schlangen werden
„In den Spitzenmonaten behandeln wir bis zu 20 Patienten mit Schlangenbissen in unserem Intensivzimmer“, sagt Dr. Nshimiyimana. „Viele müssen nach einem Biss stundenlang zur nächsten medizinischen Einrichtungen reisen. Bei Schlangenbissen ist es aber sehr wichtig, rechtzeitig ein Gegengift zu bekommen.“
Die Gesamtzahl derer, die in Äthiopien Opfer von Schlangenbissen werden, lässt sich nur schätzen. Allein in unserem Projekt in Abdurafi behandelten wir 555 Patienten in zehn Monaten. Darunter waren Warnbisse, sogenannte trockene Bisse, und Bisse mit leichten, mittelschweren und schweren Vergiftungen.
Viele Leben könnten gerettet werden
Nicht alle Betroffenen müssen nach einem Schlangenbiss mit einem Gegengift behandelt werden. In anderen Fällen ist auch eine Behandlung z.B. durch Verabreichen von intravenöser Flüssigkeit, Schmerzmittel, Bluttransfusionen oder das Hochlagern von Gliedmaßen ausreichend. Wenn nötig, behandeln wir auch Wunden und Folgeerkrankungen.
Viele Leben könnten gerettet werden, wenn Opfer von Schlangenbissen die Möglichkeit hätten, sich rasch und wirksam behandeln zu lassen. Es mangelt jedoch an Geldern zur Prävention und Behandlung von Schlangenbissen. Inzwischen hat die WHO begonnen, Länder bei der Auswahl sicherer und wirkungsvoller Gegengifte für lokale Schlangenarten zu unterstützen. Doch mehrere Hersteller haben die Produktion von Gegengiften eingestellt und die Verfügbarkeit von wirksamen und kostengünstigen Gegengiften bleibt begrenzt.
WHO-Strategie könnte die Wende bringen
Für die Zukunft ist es enorm wichtig, Gegengifte von guter Qualität, die bei Bissen durch lokale Schlangenarten wirksam und sicher sind, zugänglich zu machen - kostenlos oder zu einem Preis, den jeder bezahlen kann. Außerdem muss mehr Personal im Gesundheitswesen für die Behandlung von Schlangenbissen geschult werden. Ein neues Strategiepapier der WHO soll nun dazu beitragen, den Zugang zu medizinischer Hilfe bei Schlangenbissen zu verbessern. Die sogenannte Roadmap könnte ein Wendepunkt für den Kampf gegen Schlangenbisse sein und eine echte Veränderung für Opfer von Schlangenbissen bedeuten.