Seenotrettung im Mittelmeer: Ärzte ohne Grenzen weist Vorwürfe als bittere Scheindebatte zurück
Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, zu den Vorwürfen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und weiteren europäischen Politikern:
„Es handelt sich hier um eine Scheindebatte, die unglaublich bitter ist, denn sie geht am eigentlichen Problem völlig vorbei und lenkt vom Versagen der europäischen Staaten bei der Seenotrettung ab. Anstatt die Rettung von Menschen im Mittelmeer zu unterstützen, attackiert Innenminister Thomas de Maizière die zivilen Seenotretter ohne irgendeinen konkreten Beleg für seine Behauptungen. Die von de Maizière spezifisch erhobenen Vorwürfe sind aus unserer Perspektive vollkommen ungerechtfertigt. Innenminister de Maizière und weitere europäische Verantwortliche machen die zivilen Seenotretter auf diese Weise zu Sündenböcken, obwohl diese genau das tun, wozu die Staaten der EU offensichtlich nicht willens sind: Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Sie diskreditieren und erschweren die zivile Seenotrettung, während die humanitäre Krise im Mittelmeer weiter anhält. Die europäischen Staaten müssen endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und ihre Anstrengungen zur Seenotrettung intensivieren, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden.
Menschen fliehen vor dem Horror in Libyen über das Mittelmeer. Sie fliehen vor Folter, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und furchtbaren Bedingungen in libyschen Internierungslagern. Menschen sterben auf dieser Flucht. Allein in diesem Jahr sind mehr als 2.300 Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer ertrunken. Nach wie vor gibt es insgesamt viel zu wenige Rettungsschiffe, um diese Menschen vor dem Tod zu bewahren.
Die Arbeit der zivilen Seenotretter ist nur deswegen nötig, weil die Bemühungen der europäischen Staaten hierbei völlig unzureichend sind. Bei den Such- und Rettungsaktionen hält sich Ärzte ohne Grenzen strikt an das internationale Seerecht. Alle Such- und Rettungskationen werden von der Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom (MRCC) organisiert.
Gemäß internationalem Seerecht ist jeder Schiffskapitän dazu befugt, im Falle einer möglichen Gefahr für das Schiff und die Besatzung, den Transponder auszuschalten. Solch eine Situation könnte zum Beispiel in Zusammenhang mit unbekannten, bewaffneten Schiffen auftreten, die in der Nähe libyscher Gewässer operieren. Die Kapitäne auf den von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée gecharterten Schiffen könnten zum Schutz der eigenen Sicherheit in außergewöhnlichen Situationen diese Maßnahme ergreifen.
Die Rettungsschiffe, auf denen Ärzte ohne Grenzen arbeitet, die Prudence und die gemeinsam mit SOS Méditerranée betriebene Aquarius, schalten ihre Transponder nie mit dem Ziel ab, ihre Position zu verbergen. Die Bewegungen der Rettungsschiffe sind vollkommen transparent und für alle zuständigen Behörden nachvollziehbar.
Scheinwerfer verwenden die Prudence und die Aquarius nachts ausschließlich in akuten Notsituationen: Wenn infolge eines SOS-Signals bei der Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom bekannt wird, dass sich ein Boot in Seenot in der Nähe des Rettungsschiffes befindet oder wenn es mit einem Fernglas gesichtet wurde. Die Scheinwerfer sind abwärts in das Wasser um das Schiff herum gerichtet. Damit das Licht über eine Distanz von mehr als 12 Seemeilen hinweg und von der libyschen Küste aus sichtbar wäre, müssten die Scheinwerfer wesentlich größer sein als die aktuell auf den Schiffen mit Teams von Ärzte ohne Grenzen verwendeten.
Die beiden Schiffe sind bei den Rettungseinsätzen in internationalen Gewässern in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste positioniert, denn von dort aus werden die meisten Notrufe abgesetzt. Unsere Teams suchen das Meer mit Ferngläsern nach Booten ab und reagieren auf Anfragen der italienischen Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung. Gemäß internationalem Seerecht und italienischer Gesetzgebung ist das Ignorieren eines Notrufs auf See eine unterlassene Hilfeleistung und kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
In extremen Notfällen haben sich unsere Schiffe zur Lebensrettung bis an die Grenze der internationalen Gewässer auf zwölf Seemeilen der libyschen Küste genähert. Nur in äußersten Notfällen und ausschließlich mit Erlaubnis der zuständigen italienischen und libyschen Behörden fahren sie noch geringfügig weiter in libysche Gewässer hinein. Im Jahr 2016 gab es drei Situationen, in denen Ärzte ohne Grenzen, mit der expliziten Erlaubnis der zuständigen libyschen und italienischen Behörden, an Rettungsaktionen 11,5 Seemeilen vor der libyschen Küste beteiligt war.“
Alle Informationen zu unseren Rettungseinsätzen erfahren Sie hier:
Hilfseinsatz von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer: Fragen und Antworten