Kolleg*innen vor Ort stärken: Die Akademie im Krisengebiet
Die medizinischen Bedürfnisse in unseren Einsatzländern sind enorm, doch oft fehlt es vor Ort sehr an qualifiziertem Personal. Jana Kuchheuser und Dr. Mona Tamannai waren für die Ärzte ohne Grenzen-Akademie in Sierra Leone tätig. Im Interview erzählen sie, was sie an unserem Weiterbildungsprogramm begeistert, dessen Ziel nachhaltiger Wissenstransfer ist.
Was können wir uns unter der "Ärzte ohne Grenzen-Akademie" vorstellen?
Jana Kuchheuser: Die Akademie bietet unserem lokalen medizinischen Personal umfassende Weiterbildungsprogramme an. Die Ressourcen des Gesundheitswesens sind in Krisengebieten gering. Wir erleben immer wieder, dass unsere Mitarbeitenden selbst in grundlegenden medizinischen Prozeduren unzureichend ausgebildet sind. Unsere Lernangebote sollen diese Lücke schließen: Ein globales Team an erfahrenen Mediziner*innen hat Curricula für verschiedene Berufsgruppen entwickelt. Wir passen diese im jeweiligen Einsatzland an die Bedarfe vor Ort an. Dabei sind die Kosten gering: Unser Lehrgang für Krankenpflege und Hebammenkunde etwa kostet pro Teilnehmer*in und Jahr rund 4.000 Euro.
Mona Tamannai: Unser Kinderkrankenhaus in der Stadt Kenema im Südosten Sierra Leones war eine der ersten von weltweit bislang elf Kliniken, an der die Akademie ihr Programm startete – zunächst mit unserem Lehrgang für Krankenpflege und Hebammenkunde. Bald haben wir dort ein weiteres Angebot aufgebaut, das sich an die sogenannten Community Health Officer [1] richtet. Diese sind in Sierra Leone das wichtigste Rückgrat des Krankenhauspersonals, da es kaum Ärzt*innen im Land gibt. Mittlerweile läuft das Programm sehr erfolgreich.
“Das Mentoring ist das Herzstück unserer Arbeit”
Was zeichnet das Angebot der Akademie aus?
Jana Kuchheuser: Es ist der Lernansatz der Akademie, der mich begeistert. Wir vermitteln das Wissen nicht nur in Kleingruppen in interaktiven Unterrichtsblöcken, sondern vor allem direkt in der Praxis: Unsere klinischen Mentor*innen begleiten die Lernenden täglich am Krankenbett – und dies bis zu zwei Jahre lang. Uns geht es um die Nachhaltigkeit des Lernens. Denn Ziel der Akademie ist es, das Gesundheitssystem und die Mediziner*innen vor Ort klinisch so zu stärken, dass sie zunehmend eigenständig und von der Unterstützung durch internationale Kräfte unabhängig werden.
Mona Tamannai: Von großem Vorteil sind zwei Besonderheiten der Akademie: Zum einen sind die klinischen Mentor*innen allesamt lokale Mitarbeitende. Sie teilen Sprache und Kultur der Lernenden, die Nähe ist oftmals größer als zu internationalen Kräften. Zum anderen sind wir Mitarbeitenden der Akademie weder Vorgesetzte noch direkte Kolleg*innen. Das macht es für die Teilnehmenden leichter, auch wiederholt Fragen zu stellen und zu offenbaren, was ihnen schwerfällt. Neben dem Mentoring arbeiten wir viel mit Simulationen, Falldiskussionen und Rollenspielen.
Als aus Deutschland für die Akademie nach Sierra Leone Gereiste - was war deine Rolle?
Mona Tamannai: Ich habe das Weiterbildungsprogramm für die Community Health Officer geleitet und stand unseren beiden sierra-leonischen klinischen Mentoren zur Seite. Teils habe ich auch selbst die Teilnehmenden auf den Stationen begleitet. Viele haben ein fundiertes theoretisches Wissen. Doch der Transfer in die klinische Arbeit, sozusagen zur Patient*in hin, ist etwa bei den möglichen Diagnosen eine Herausforderung. Hier zahlt sich der Lernansatz der Akademie aus. Dank der kontinuierlichen Begleitung können wir die Behandlungsoptionen auch bei komplexen oder selten auftretenden Diagnosen im Detail diskutieren, zum Beispiel bei Patient*innen mit Fieber unklarer Genese, Sepsis oder neurologischen Erkrankungen.
Erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium
Jana Kuchheuser: Ich war die einzige nicht-medizinische Kraft in unserem Team und habe das gesamte Projekt koordiniert. Das hat viel Netzwerkarbeit mit der Krankenhausleitung und dem sierra-leonischen Gesundheitsministerium bedeutet. Die Zusammenarbeit in Kenema ist sehr erfolgreich: Unsere Weiterbildungsprogramme sind vom Gesundheitsministerium akkreditiert, die Lernenden erhalten ein Abschlusszertifikat. Gemeinsam suchen wir derzeit nach Wegen, unsere Kurse vollständig in das Landesausbildungsprogramm zu integrieren.
Und wie hat das Krankenhauspersonal das Lernangebot angenommen?
Mona Tamannai: Ganz wunderbar. Lehrende und Teilnehmende waren gleichermaßen motiviert. Für ein Projekt zu arbeiten, das auf derartige Begeisterung stößt, macht unglaublich viel Spaß. Ganz wichtig war dabei auch, dass wir alle die Erfolge unserer gemeinsamen Anstrengung direkt auf den Kinderstationen erleben konnten.
Immer mehr Standorte fragen nach einer Akademie
Jana Kuchheuser: Im Übrigen ist das Interesse an dem Angebot auch außerhalb von Sierra Leone groß. Immer mehr unserer Hilfsprojekte wenden sich an das Strategieteam der Akademie in Brüssel und fragen nach Möglichkeiten der Unterstützung. Bislang haben wir zusätzliche Programme in der Zentralafrikanischen Republik, in Guinea, Mali und im Südsudan etabliert. Einen weiteren Standort gibt es seit Kurzem im Jemen, wo ich erneut für die Akademie arbeite.
Das Engagement in der Akademie geht also weiter?
Jana Kuchheuser: Ja, ich möchte mich gerne ganz darauf fokussieren. Bis Mai bin ich in der Küstenstadt Aden im Einsatz, um dort mit einem kleinen Team in unserem Trauma-Krankenhaus ein Weiterbildungsprogramm für Krankenpflegekräfte zu initiieren.
Mona Tamannai: Ich arbeite derzeit für Ärzte ohne Grenzen als pädiatrische Trainerin. Gleich nach dem Einsatz in Sierra Leone war ich in Bangladesch tätig. Doch die Weiterbildung unseres Personals mit einem so umfassenden klinischen Mentoring wie in der Akademie war dort nicht möglich. Erneut für die Akademie zu arbeiten? Da wäre ich sofort dabei.
[1] Die Community Health Officer haben eine dreijährige medizinische Ausbildung und stehen mit ihren Qualifikationen zwischen Krankenpflegekräften und Ärzt*innen.
ThemenTalk: Medizinischer Wissenstransfer
Am 13.06. geben Mona Tamannai und Inga Osmers in einem Online-ThemenTalk einen Einblick in die verschiedenen Ansätze und Methoden, die wir nutzen, um Wissen zu vermitteln und so die medizinische Versorgung in Krisengebieten zu verbessern. Sie sprechen über Herausforderungen, wie etwa die plötzliche Notwendigkeit, aufgrund der COVID-Pandemie auf Online Fortbildungen umzustellen.