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Die vergessenen Opfer - Frauen über 50

Sie sind über 50, meist Witwen, die Kinder sind mit den Enkeln weggezogen in sicherere Gebiete, doch sie harren zwischen den Fronten des Ukraine-Konflikts aus. Die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten, die wir in der Ostukraine betreuen, sind ältere Frauen. Viele von ihnen kämpfen mit Angstzuständen und Depressionen, hinzu kommen chronische Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes.

Die Spielzeuge sind noch da und die Matratzen für den Mittagschlaf. Im Flur sind leere Garderobenschränke, an denen Namen auf bunten Aufklebern stehen. Die Kinder, für die sie gedacht sind, sind längst weg. Der Kindergarten in Avdiivka im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet des Oblast Donezk ist geschlossen, er wird nicht mehr gebraucht. Viele Familien sind in den vergangenen Jahren geflohen, in sicherere Gebiete. Dorthin, wo es Jobs gibt und eine bessere Zukunft.

Zurückgeblieben sind die älteren Frauen, viele von ihnen sind Witwen. Der Ort war immer ihr Zuhause, sie wollten oder konnten nicht gehen. Aber mit dem Bleiben kam die Angst. Gefechte zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den prorussischen Separatisten und Granatenbeschuss gehören zum Alltag zwischen den Fronten.

Die seelische Belastung durch die unsichere Lage ist groß, und oft fehlen die sozialen Netze, die es vor dem Konflikt gab. 85 Prozent der Patienten und Patientinnen, die im vergangenen Jahr bei unserem Team psychologische Hilfe gesucht haben, waren Frauen. Der überwiegende Teil von ihnen war älter als 50. Neben Ängsten und Depressionen belasten die Frauen chronische Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes.

Knapp einer Granate entgangen

Einige von ihnen treffen sich regelmäßig mit einem Psychologen von Ärzte ohne Grenzen im verlassenen Kindergarten. Larisa Ivanovna ist fast immer dabei. Als vor vier Jahren eine Granate in ihrem Wohnblock einschlug und ein Mann starb, ging sie weg aus Avdiivka. Doch sie kam zurück, schließlich war es doch ihr Zuhause. Die 62-Jährige lebt mit ihrer Katze und ihrem Hund, fünf Mal wurde ihr Wohnhaus bereits getroffen.

Einmal entging sie nur knapp einer Granate. Ein Nachbar mit seiner Familie brachte Larisa Ivanovna gerade noch dazu, loszurennen, sich zwischen zwei Garagen auf den Boden zu werfen. Als sie danach zurück vor ihr Haus ging, sah sie den Krater, genau dort, wo sie zuvor gestanden hatten, als der Beschuss losging. Den 27. August feiert sie seitdem als ihren zweiten Geburtstag.

Sobald sie draußen Granatenbeschuss hört, rennt sie mit gepacktem Rucksack ins Treppenhaus, wo die Nachbarn sich versammeln. „Ich kann in solchen Momenten nicht alleine sein. Es ist leichter, wenn man mit jemandem reden kann, da geht es einem besser“, sagt sie.

Um all das zu verarbeiten, trifft Larisa Ivanovna sich mit Frauen, die Ähnliches erlebt haben, und mit dem Psychologen von Ärzte ohne Grenzen, Artem Tarasov. „Diese Unterstützung ist wichtig für uns alle, der Konflikt hat jeden getroffen, jeden traumatisiert“, sagt sie.

Medizinisches Personal ist geflohen

Ängste, Schlaflosigkeit, Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, chronische Schmerzen an Rücken und Gliedmaßen, die Unfähigkeit, die täglichen Routine zu bewältigen, nichts tun, nichts essen zu wollen – so beschreibt Artem Tarasov die Symptome von traumatischem Stress, über die er die Menschen hier aufklärt. Neben den Einzeltherapien und den Gruppensitzungen gehören Schulungen für Lehrer und medizinische Helfer vor Ort zu seiner Arbeit, um überhaupt ein Bewusstsein zu schaffen für psychische Erkrankungen.

In 28 Orten im Süden des Verwaltungsbezirks Oblast Donezk betreibt Ärzte ohne Grenzen mobile Kliniken. Seit Beginn des Konflikts 2014 ist die medizinische Versorgung hier unterbrochen, viele Ärzte und andere Mitarbeiter sind in sicherere Gebiete geflohen, berichtet Myriam Berry, Projektkoordinatorin für das Donezk-Gebiet. Medizinische Einrichtungen wurden zerstört. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen – das und die hohe Inflationsrate, die viel von der Rente auffrisst, zwingt die Älteren dazu, abzuwägen, ob sie Lebensmittel, die Heizung oder eben Medikamente zur Behandlung ihrer chronischen Krankheiten bezahlen, sagt Berry.

Larisa Ivanovna ist für die Hilfe von Ärzte ohne Grenzen dankbar. An die Kindergarderobenschränke gelehnt sagt sie seufzend: „Vier Jahre Krieg, meine Nachbarn und ich, wir sind so müde. Alle sind so müde. Jeder wünscht sich Frieden.