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"Wir haben es mit einer unsichtbaren Tragödie zu tun" - Interview

Seit Juli 2016 leistet Ärzte ohne Grenzen lebensrettende Ersthilfe für inhaftierte Flüchtlinge und Migranten in Tripolis, an der libyschen Küste. Die meisten von ihnen wurden in Libyen ausgeraubt, von kriminellen Netzwerken festgehalten, misshandelt und gefoltert. Einige haben nicht überlebt. Zu Beginn dieses Jahres haben wir zudem ein neues Projekt eröffnet, das Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden in Misrata und Umgebung helfen soll. Dieses Projekt wird nun ausgeweitet. Jean-Guy Vataux ist Landeskoordinator in Libyen. Im Interview spricht er über die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in dem nordafrikanischen Land.

 

Wie lässt sich die Lage vor Ort und die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in den offiziellen Internierungszentren in Misrata beschreiben?

Unsere Teams arbeiten seit ein paar Monaten in drei Internierungszentren in Misrata und Umgebung. Das geschieht offiziell unter der Aufsicht durch die Behörde zur Bekämpfung illegaler Einwanderung (DCIM). Die Zahl der dort Inhaftierten ändert sich wöchentlich. Die Menschen werden auf See von der libyschen Küstenwache aufgegriffen oder zum Beispiel in Städten und an Kontrollpunkten verhaftet. Manche werden aus Internierungszentren in Tripolis hierher verlegt. Einige von ihnen haben vorher jahrelang in Libyen gelebt und gearbeitet. Es reicht schon aus, positiv auf Hepatitis C getestet zu werden, um als Migrant in Libyen im Gefängnis zu landen.

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen organisieren vor allem medizinische Konsultationen in den Internierungszentren. Der Großteil der gesundheitlichen Probleme unserer Patientinnen und Patienten sind Folgen der Lebensbedingungen in den Zentren und der Gewalt, die die Menschen auf ihrem Weg erlebt haben. Sie leiden unter Hautkrankheiten, Krätze, Durchfall, Atemwegsinfekten, Muskelschmerzen, Wunden und auch psychologischen Problemen. Patienten mit schwereren Verletzungen, zum Beispiel mit Knochenbrüchen, überweisen wir an spezialisierte Einrichtungen. Zudem verteilen wir Hygieneartikel und andere Hilfsgüter. 

Auch wenn wir dadurch die Lebensbedingungen in den Zentren etwas verbessern können, sollte man das Hauptproblem nicht vergessen: Die Menschen werden eingesperrt und warten auf eine mögliche Abschiebung. Währenddessen müssen sie einen undurchsichtigen Prozess durchlaufen, indem nicht einmal ihre Grundrechte gewahrt werden.

Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) werden in Libyen rund 7.100 Menschen in 27 Internierungszentren festgehalten, die von der Behörde zur Bekämpfung illegaler Einwanderung geleitet werden. Die meisten von ihnen in Tripolis. Was ist mit den anderen Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden im Land?

Die IOM geht von mehr als 380.000 in Libyen lebenden Migranten aus. Es ist in der Tat so, dass nur ein relativ geringer Teil, der in Libyen lebenden Migranten und Flüchtlinge, in den offiziellen Zentren festgehalten wird. Manche von ihnen sind nach Libyen gekommen, um hier zu arbeiten, denn das Land war einst ein wirtschaftliches El Dorado für Menschen aus den Nachbarländern. Andere arbeiten hier, um sich die Fahrt über das Mittelmeer zu finanzieren. Die Arbeitsbedingungen kommen an vielen Orten jenen von Zwangsarbeit gleich und oftmals werden die Menschen wiederholt inhaftiert. Andere wiederum sind erst am Anfang ihrer Reise durch Libyen. Der Weg durch die libysche Wüste und das Festhalten in “inoffiziellen” Zentren – das heißt, in Häusern und Lagerhallen, die von kriminellen Netzwerken betrieben werden – werden von jenen, die sie überlebt haben, als unerträglich beschrieben. Wir können ihnen dort nicht helfen.

2016 sind etwa 5.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken und 2017 sind es bis Juni schätzungsweise schon 2.000 Menschen. Aber wie viele sterben, bevor sie überhaupt an der Küste ankommen und auf die Boote steigen? Wir haben es dort mit einer unsichtbaren Tragödie zu tun. 

Was macht Ärzte ohne Grenzen, um den Menschen zu helfen?

Diesen Monat haben wir eine ambulante Klinik in Misrata eröffnet, um den Migranten und Flüchtlingen zu helfen, die hier arbeiten. So können wir ihnen kostenlose und vertrauliche medizinische Hilfe bieten. Ärztliche Diskretion ist entscheidend in einem Umfeld, wie diesem, in dem manche Erkrankungen schon zur Verhaftung und zur Ausweisung führen können. Gleichzeitig arbeiten wir weiter in den Internierungszentren.

Auf die Frage, wie wir den Menschen während der schlimmsten Phasen der Reise helfen können, haben wir noch keine Antwort. Zurzeit verhandeln wir noch, um Zugang zu den Menschen im Inland zu bekommen. Es wird sich zeigen, welche Art von Hilfe zugelassen wird. Unsere Bemühungen könnten auch scheitern und dann müssen wir uns Alternativen überlegen.

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2011 in Libyen aktiv und unterstützt das libysche Gesundheitssystem, das durch den wieder entfachten Krieg und die daraus folgende Wirtschaftskrise stark belastet ist. Gesundheitseinrichtungen haben nicht genug Medizin und Personal. Ärzte ohne Grenzen reagiert mit Zahlungen an öffentliche Gesundheitseinrichtungen, zur Unterstützung zum Beispiel von Infektionskontrolle und von Notaufnahmen. Zudem soll weiterhin auf die Folgen des Krieges reagiert werden, wenn Hilfe benötigt wird. Vor diesem Hintergrund wurde unter anderem ein Projekt zur medizinischen und psychologischen Hilfe für Kinder und Familien, die vor Kämpfen aus Benghazi flüchten mussten, eröffnet.