Sichtbare und unsichtbare Wunden
Sexualisierte Gewalt ist in der Zentralafrikanischen Republik in den letzten zehn Jahren zunehmend zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit geworden. Frauen und Minderjährige sind die am stärksten betroffenen Gruppen. In einem Land, das von jahrelangem Bürgerkrieg gezeichnet ist und sich in einer Dauerkrise befindet, werden Übergriffe nicht nur von Mitgliedern bewaffneter Gruppen verübt; oft wird der Übergriff von jemandem begangen, den die Betroffene bereits kennt. Zwar hat sich der Zugang zu medizinischer und psychologischer Versorgung im Laufe der Jahre verbessert, aber die Maßnahmen sind im Vergleich zum Ausmaß der Bedürfnisse nach wie vor unzureichend.
"Nach dem Übergriff dachte ich, ich würde mir das Leben nehmen", sagt Charlotte*, eine 18-jährige Überlebende sexualisierter Gewalt aus der Hauptstadt Bangui.
Nachdem ihre Mutter gestorben war und ihr Vater sie verstoßen hatte, lebte Charlotte bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Eines Tages vergewaltigte sie ihr Onkel zu Hause, während der Rest der Familie unterwegs war. Ihre Tante glaubte ihr nicht und Charlotte fühlte sich völlig allein und verzweifelt.
Charlotte war körperlich als auch psychisch verletzt und schutzbedürftig, als sie in unserem Gesundheitszentrum “Tongolo“ in Bangui ankam. Tongolo bedeutet "Stern" in Sango, der lokalen Sprache, und bezieht sich auf die "Hoffnung", die ein leuchtender Stern am dunklen Himmel symbolisiert. Charlotte ist eine von mehr als 6.000 Überlebenden sexualisierter Gewalt, die seit dem Start des Tongolo-Zentrums im Jahr 2017 von uns medizinisch, psychologisch und psychosozial betreut wurden.
Célestin*, ein weiterer Überlebender aus Bangui, fühlte sich ebenfalls gefangen und hatte nicht erwartet, dass ihm ein solch traumatisches Ereignis widerfahren würde. Er bot einer Person, die er zu kennen glaubte, eine Unterkunft an, bis er eines Nachts sexuell belästigt wurde.
"Ich habe geschlafen, und er kam aus dem Nichts mit schlechten Absichten", sagt Célestin. "Er war betrunken und zwang mich, Dinge zu tun, die ich nicht wollte. Ich geriet in Panik, ich hatte solche Angst. Er schlug mich, aber ich konnte fliehen.”
Frauen und Minderjährige, die Hauptgruppen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind
Während fast 95 Prozent der Patient*innen Frauen und Mädchen sind (über 1.900 im Jahr 2020), suchten im vergangenen Jahr auch 111 Männer im Rahmen unseres Programms Hilfe. 52 Prozent aller Überlebenden waren minderjährig, eine Zahl, die unsere medizinischen Beraterin Axelle Franchomme als alarmierend bezeichnet.
Eine chronische Krise, die sexualisierte Gewalt begünstigt
Durch den langjährigen Bürgerkrieg, wiederkehrende Zwangsvertreibungen sowie ein hohes Maß an Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, ist sexualisierte Gewalt zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit geworden.
Vor Jahren identifizierten die Überlebenden in den meisten Fällen bewaffnete Männer als ihre Angreifer. Das Programm ist mittlerweile für größere Teile der Gesellschaft zugänglich und unsere heutige Erfahrung zeigt, dass die Täter ihren Opfern sehr oft gut bekannt sind und zu ihrem engen Umfeld gehören, seien es Freunde, Nachbarn oder sogar Verwandte. Im Jahr 2020 gaben 56 Prozent der Patient*innen, die von unseren Teams behandelt wurden, an, die Täter zu kennen. Mit dem kürzlichen Wiederaufflammen der Gewalt hat sich dieser Trend allerdings umgekehrt und bewaffnete Akteure sind wieder die am häufigsten genannten Angreifer.
Die Nachwirkungen des Angriffs
"Wenn ein Angehöriger sexuell missbraucht wird, liegt für viele Familien die Schuld bei der Person, die missbraucht wurde. Sie erkennen nicht, dass sie selbst auch missbraucht werden könnten", sagt Aimé-Césaire, unser Berater für psychische Gesundheit.
Das überträgt sich auch auf die Art und Weise, wie Patient*innen kommunizieren. In einigen der zentralafrikanischen Sprachen wird das Wort "Vergewaltigung" nicht verwendet, weil es als Tabu und schändlich angesehen wird.
"Schweigen führt zu zerschlagenen Ambitionen, zerbrochenen Familien, Krankheit, dysfunktionalen Beziehungen und ruinierten Leben", so Gisela Silva, unsere Teamleiterin für psychische Gesundheit.
Unsichtbare Narben
Die unsichtbaren Folgen einer sexualisierten Gewalterfahrung reichen von posttraumatischen Belastungsstörungen über Angstzustände bis hin zu Depressionen und Suizid-Versuchen. Da das Thema nach wie vor ein Tabu ist, ist es den Überlebenden in den meisten Fällen verboten, über den erlebten Übergriff zu sprechen, da dies Schamgefühle in der Familie auslösen könnte.
Das Problem wird dann innerhalb der Gemeinschaft oder zwischen Familienmitgliedern gelöst, wobei vergessen wird, dass es sich um einen medizinischen Notfall handelt, um den man sich kümmern muss.
Für männliche Überlebende ist die Situation noch komplizierter. Viele sind zu verängstigt, um sich zu äußern, und nur wenige trauen sich, zu uns zu kommen. Der Druck der Gemeinschaft und die Stigmatisierung sind erheblich.
Da die gesundheitlichen und psychischen Bedürfnisse der Überlebenden nicht adäquat behandelt werden können, ohne ihr soziales Umfeld zu berücksichtigen, werden die Überlebenden auch mit einem Sozialarbeiter in Kontakt gebracht.
Frühzeitiges Aufsuchen von Hilfe ist entscheidend
Nach einer Vergewaltigung müssen viele der notwendigen medizinischen Behandlungen innerhalb von drei Tagen durchgeführt werden. Im Jahr 2020 kamen jedoch nur 26 Prozent der von uns behandelten Patient*innen innerhalb von 72 Stunden nach dem Übergriff in unser Projekt.
Weibliche Patientinnen können auch Notfallverhütungsmittel erhalten, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. Im Tongolo-Zentrum werden auch Optionen zur Familienplanung angeboten, um die Stigmatisierung eines Kindes, das aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist, zu mildern.
Ungedeckter Bedarf
Es gibt derzeit nur sehr wenige Angebote dieser Art im Land, so dass viele der Überlebenden unerkannt bleiben. Außerdem herrscht eine gewisse Straflosigkeit im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, da Strafverfahren nur in der Hauptstadt stattfinden.
Im Tongolo-Zentrum wurde nun ein Raum geschaffen, der nationale und internationale Organisationen gemeinsam beherbergt, so dass Überlebende im Rahmen eines systematischen Kreislaufs Zugang zu allen notwendigen Dienstleistungen an einem Ort haben.
Es ist noch ein langer Weg, bis alle Überlebenden sexualisierter Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik identifiziert, behandelt und angemessen unterstützt werden.
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Ärzte ohne Grenzen ist seit 1997 in der Zentralafrikanischen Republik mit 13 Projekten in Bangui, Bria, Bangassou, Bambari, Kabo, Batangafo, Paoua, Bossangoa und Carnot tätig. Die Komponente der Behandlung Überlebender von sexualisierter Gewalt wurde in alle Projekte integriert und das Tongolo-Team interveniert gemeinsam mit dem mobilen Notfallteam Eureca auch an anderen Orten im ganzen Land.
*Die Namen der Patient*innen wurden zum Schutz ihrer Identität geändert