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Demokratische Republik Kongo: Im Einsatz gegen sexualisierte Gewalt

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Hannah Efrat Vollmer

Hannah Efrat Voltmer

Ich bin Hebamme und lebe in Deutschland. Mit Ärzte ohne Grenzen war ich in den vergangenen zwei Jahren im Irak, der Zentralafrikanischen Republik und der Demokratischen Republik Kongo im Einsatz.

Es ist kurz vor 8 Uhr morgens in unserer Klinik in Kananga, Demokratische Republik Kongo. Und wir tanzen. Magic System, Cesaria Evora und Maciré Sylla sind auf den Fluren zu hören. Unsere Körper bewegen sich voller Emotionen. Vier bis fünf Lieder, dann ist es 8.15 Uhr und die Arbeit beginnt. Hier versorgen wir mit medizinischer, psychologischer und sozialer Hilfe Überlebende sexualisierter Gewalt, Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts. Die Musik und der Tanz am Morgen sind für das Team ein Weg, Zusammenhalt und Stärke zu schaffen. Denn auf uns alle wartet ein voller Tag, der uns emotional und psychisch herausfordert.

Die Gewalt ist omnipräsent 

In Behandlungsraum 1 behandelt eine Gesundheits- und Krankenpflegerin eine Frau Anfang fünfzig. Sie berichtet, dass sie von mehreren Männern, die mit einer Machete bewaffnet waren, unterwegs angehalten und sexuell missbraucht wurde. Das Geld und die Ernte, die sie bei sich trug und auf dem Markt verkaufen wollte, wurden ihr anschließend gestohlen. Ihre Kleidung ist an mehreren Stellen zerrissen. Ihre Wunden werden nun versorgt und sie erhält neben den Notfall-Medikamenten auch Ersatzkleidung. 

Auch Behandlungsraum 2 ist bereits belegt - ein siebenjähriger Junge wird von einer Hebamme versorgt. Er wurde durch seinen Lehrer sexuell missbraucht. 

Sexualisierte Gewalt wird häufig in privaten Räumen wie dem eigenen zuhause oder dem Haus des Täters verübt. Nicht selten sind es mehrere Täter, von denen die Überlebenden berichten. Regelmäßig finden sexualisierten Übergriffe aber auch im öffentlichen Raum statt, an Orten, an denen die Menschen ihren Alltag leben - auf dem Markt, unterwegs, in der Schule, auf dem Feld, im Busch, im Vertriebenencamp oder auf der Flucht.

Medizinische Hilfe innerhalb von 72 Stunden 

Fast zwei Drittel der Überlebenden sexualisierter Gewalt erreichen unsere medizinische Hilfe erst deutlich nach dem Zeitfenster von 72 Stunden, welches z.B. für die Prävention von Infektionen und die Verhinderung von ungewollten Schwangerschaften extrem wichtig ist. Nicht selten kommen Überlebende sexualisierter Gewalt erst Monate später zu uns, wenn sie beispielsweise einen sicheren Schwangerschaftsabbruch benötigen. Für Kinder ist der Grund der verspäteten Hilfesuche oft Angst. Angst auch vor den Konsequenzen, wenn das Erlebte den eigenen Eltern mitgeteilt wird.  

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Zentralafrikanische Republik Kongo
Das Team aus Kananga besucht verschiedene Dörfer, um dort eine Gesundheitsversorgung für Überlebende sexualisierter Gewalt einzurichten.
© Hannah Efrat Voltmer

Männliche Überlebende geben als Grund für eine verspätete Hilfesuche oft auch ihren Stolz an. Gesellschaftlichen Normen und Werte prägen das gesellschaftliche Bild von Männlichkeit und der Rolle des Mannes. Wir erkennen an den Versorgungsdaten in unserem Projekt, dass wir deutlich weniger männliche Überlebende mit unserer medizinischen Versorgung erreichen, obwohl wir wissen, dass auch hier ein großer Hilfebedarf besteht. 

Die Hilfe zu den Menschen bringen 

Eine andere Barriere ist auch die Entfernung zu unserer Einrichtung. Daher hat Ärzte ohne Grenzen mit Hilfe der Dezentralisierung der Versorgung einen wichtigen Schritt unternommen, um diese Barriere zu überbrücken. An diesem Morgen gehen meine beiden Kolleg*innen Hélène und Gaston (beide Gesundheits- und Krankenpflegende) und ich in das Büro im ersten Stock, wo unser Gesundheitsberatungs-Team gerade das Tagesprogramm bespricht.

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Hannah Voltmer mit ihren Kolleg*innen Hélène und Gaston im Büro in Kananga.
Hannah Voltmer mit ihren Kolleg*innen Hélène und Gaston im Büro in Kananga.
© MSF

Später werden sie in den umliegenden Dörfern mehrere Gemeinschaften besuchen und mit Hilfe einer Lautsprechanlage, Musik und Hilfsmaterialien zum Thema sexualisierte Gewalt aufklären. Eine der wichtigsten Informationen für die Menschen ist, wo sich die nächstgelegenste kostenlose medizinische Hilfe befindet und das besonders wichtige Zeitfenster von 72 Stunden für den Erhalt der HIV-Postexpositionsprophylaxe. Unsere Teams klären auch über die notwendige Behandlung sexuell übertragbarer Erkrankungen und verschiedene Verhütungsmethoden auf.  

Mit Mundpropaganda gegen das Tabu 

Seit 2017 hat Ärzte ohne Grenzen hier in Kananga mehr als 14.000 Überlebende sexualisierter Gewalt mit medizinischer und psychologischer Versorgung unterstützt. Wichtige Bestandteile unserer Arbeit bilden auch die Familienplanung und der medizinisch sichere Schwangerschaftsabbruch. Durch Mundpropaganda erfahren junge und erwachsene Frauen von unserer Hilfe. Die Realität in der Demokratischen Republik Kongo zeigt, dass ungewollte Schwangerschaften noch immer durch unsichere Schwangerschaftsabbrüche beendet werden und dabei viele Frauen schwere Komplikationen erleiden oder gar ihr Leben verlieren. In meinem Team kennt hier jede*r mindestens eine Frau, die an einem unsicheren Schwangerschaftsabbruch verstorben ist. Untereinander sprechen wir offen darüber. Aber sonst ist es ein Tabuthema. 

Sexualisierte Gewalt: Erschreckender Alltag 

Wir wissen, dass wir nur die Spitze des Eisbergs erreichen. Für so viele Menschen hier existieren Barrieren, die eine adäquate medizinische Versorgung unerreichbar machen. Sexualisierte Gewalt wird tabuisiert, dabei ist sie für erschreckend viele Menschen, auch in der eigenen Partnerschaft, Alltag. Kinderschutz existiert praktisch nicht.  

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Demokratische Republik Kongo
Ausblick aus einem Zimmer in Kananga.
© Hannah Efrat Voltmer

Ich frage mich, wie lange es braucht, bis die Menschenrechte (z.B. Schutz vor Gewalt) nicht mehr verletzt werden? 

Den Alltag in diesem Projekt erlebe ich als sehr intensiv und herausfordernd. Doch auch kraftschenkende und wundervolle Momente passieren hier. Erst kürzlich haben wir am späten Nachmittag in der Klinik Waffeln gebacken, Musik gehört und gesungen. Jeder rührte mal im Teig, die Waffeln wurden heiß serviert. Diese Momente sind so wichtig. Dann sind wir nicht mehr Gesundheits- und Krankenpflegende, Hebammen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen. Dann sind wir einfach so, wie wir sind, zusammen.