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Covid-19 in Indien: "Was hier gerade passiert, ist grausam" 

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Portrait: Gautam Harigovind

Gautam Harigovind

Ich bin Leiter der medizinischen Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen im Gesundheitszentrum Covid-19 in Mumbai, Indien.

Man muss sich ein Krankenhaus mit 1.000 Betten vorstellen, 28 Stationen sowie den Notfall-, Unfall- und Triagebereich - all das als improvisiertes Krankenhaus in einem riesigen Metallzelt. Das erste Mal dort hineinzugehen war eine surreale Erfahrung; so etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist, als würde man ein gigantisches Schiff betreten. 

Die Decken sind wirklich hoch, doch die Belüftung ist nicht besonders gut. Sie erfüllt zwar einige Standards, aber passt nicht wirklich zu Mumbais Klima. Morgens wird es in Mumbai sehr schwül. Es ist unfassbar heiß. Dabei sechs Stunden lang in einem Schutzanzug zu arbeiten, ist unvorstellbar. Die Hitze ist fast nicht zu ertragen. 

Täglich 200 neue Patient*innen

Diesen Text schreibe ich in der zweiten Woche unseres Notfalleinsatzes. In der vorherigen Woche haben wir jeden Tag etwa 200 bis 250 neue Patient*innen aufgenommen. Obwohl die Situation in Mumbai weiterhin sehr kritisch ist, haben wir jetzt als Team eine bessere Woche: Wir konnten eine Verbesserung bei unseren Patient*innen sehen, die größer war, als wir erwartet hatten. 

Burn-out

Unsere größte Herausforderung ist derzeit die Fluktuation von Mitarbeitenden. Man kann unter diesen Umständen einfach nicht über längere Zeiträume arbeiten. Das verursacht Burn-out, und das passiert jetzt noch schneller als in der ersten Welle im vergangenen Jahr. Inzwischen ist man schon nach drei Tagen ausgebrannt. 

Selbst wenn die Schicht nur sechs Stunden dauert, sind das noch immer Covid-Stunden.

Covid-Stunden bedeuten extreme Arbeitsbedingungen, eine hohe Anzahl an Patient*innen und das Fehlen einer richtigen Einarbeitung. Es gibt 28 Stationen; auf jeder Station sollten zwei Krankenpfleger*innen pro Schicht zugeteilt sein bei insgesamt vier Schichten. Nach dieser kurzen Rechnung ist schnell klar: so viele Pfleger*innen zu finden, ist nicht einfach. 

Wir konzentrieren uns darauf, neues Personal zu rekrutieren und auszubilden. Viele der Krankenpfleger*innen des Gesundheitsministeriums kommen frisch von der Hochschule und werden direkt ins kalte Wasser geworfen. Sie versuchen, ihre Arbeit gut zu machen, aber sie sind unerfahren und wissen nicht, wie sie ihre Aufgaben oder ihre Zeit managen sollen. Krankenpfleger*innen von Ärzte ohne Grenzen unterstützen sie dabei, begleiten sie und helfen ihnen direkt am Patient*innenbett. 

Covid hat mich verändert

Covid hat mich als Menschen und als Arzt verändert.  

Menschen sterben, aber ich habe mich daran gewöhnt. Wir haben uns damit arrangiert und ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken.

Früher war ich besonders auf die Patient*innen fokussiert und engagierte mich sehr für sie. Jetzt habe ich Angst davor, enge Bindungen zu ihnen aufzubauen. Anfangs habe ich das getan, doch dann kam ich zu meiner nächsten Schicht zurück und sah ihr leeres Bett. Das brach mir das Herz. 

Selbst die Tatsache, dass ich sie jetzt als "die Patient*innen" bezeichne: Früher hätte ich den Namen verwendet. Oder ich würde sagen: "meine Patient*innen". So hat es mich verändert. 

Ein starkes Team

Wir haben uns intuitive Lösungsansätze überlegt, um die Arbeit für unsere Mitarbeitenden zu erleichtern. In unserem Team sind sehr starke Persönlichkeiten. Darauf achte ich, wenn ich sie einstelle. Jedes Mitglied unseres Teams ist wirklich besonders, sowohl in seinen klinischen Fähigkeiten als auch in seinen persönlichen. 

Wir ermutigen unsere Mitarbeitenden, schon frühzeitig mit ihren Patient*innen Gespräche über die möglichen Eventualitäten von Covid zu führen. Das soll sowohl den Mitarbeitenden als auch den Patient*innen helfen zu verstehen, was passieren könnte. Das beinhaltet auch die Möglichkeit zu sterben. 

Wir haben positive Erfahrungen damit gemacht. Unserem Team hat es geholfen, zu akzeptieren, was mit ihren Patient*innen passieren kann.

Nicht nur, dass sie das Gespräch geführt haben, sondern dass auch die Patient*innen wussten, was passieren könne, und in gewisser Weise darauf vorbereitet waren. 

Sprecht darüber!

Es muss so viel wie möglich über die Situation in Indien gesprochen werden. Was jetzt passiert, ist schlichtweg furchtbar und wenn niemand darüber spricht, dann lässt man es einfach unbemerkt passieren. 

In Indien gibt es viele Menschen, die auf jegliche Weise helfen möchten und viele Menschen, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Die Lücken liegen in der Infrastruktur. 

Die Ruhe vor dem Sturm?

Im Moment ist die Lage etwas ruhiger, doch es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Es gibt die Sorge, dass Mumbai in einen kompletten Lockdown muss. 

Wir machen viele Überstunden, um uns auf das Schlimmste vorzubereiten. Wenn das dann ausbleibt, großartig; in Sachen Covid liege ich wirklich gerne falsch!