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Mittelmeer: Es sollte um die Menschen gehen, nicht um Zahlen

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Portrait von Annika Schlingheider

Annika Schlingheider

Ich war zehn Wochen lang für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz auf der Geo Barents im Mittelmeer. Vorher habe ich für verschiedene andere Hilfsorganisationen gearbeitet und mich zum Beispiel an Land für die Seenotrettung eingesetzt und in Italien mit Geflüchteten gearbeitet.

Es ist heiß und laut auf der Geo Barents, dem Seenotrettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen. Mir gegenüber auf dem Deck sitzt Maryam*, eine junge Syrerin, die ihr Baby mit großer Ruhe auf den Knien wippt. Es ist erst einen Tag her, dass sie und ihre drei Kinder und knapp 300 weitere Menschen aus Seenot gerettet wurden. Sie waren eng zusammengedrängt auf einem alten, maroden Fischerboot im Mittelmeer unterwegs, das jederzeit hätte kentern können, bevor unser Schiff in Sicht kam. 

Sie sind durch die Hölle gegangen 

Jetzt spielen die Kinder auf dem Deck und es scheint, als hätten sie die dramatischen Erlebnisse für einen Augenblick vergessen. Maryam* und einige andere Frauen aus Syrien berichten mir, warum sie geflohen sind. Sie erzählen mir vom Bürgerkrieg in ihrem Heimatland, von der missglückten Suche nach einer Zuflucht im Irak und wie sie schließlich all ihr Eigentum verkauft haben, um zu versuchen, nach Libyen und von dort aus nach Europa zu gelangen. 

In meiner Rolle als Referentin für humanitäre Angelegenheiten höre ich viele Geschichten dieser Art. Geschichten wie die von Maryam* und ihren Freundinnen, oder auch die von John*. Er war nach Libyen gekommen, weil er gehört hatte, dass es dort gute Arbeit gäbe. Doch statt Geld für sich und seine Familie verdienen zu können, erfährt er vor allem Gewalt, denn insbesondere Migrant*innen können jederzeit willkürlich entführt werden. „Sie überfallen dich einfach so“, erzählt John. „Sie halten ihr Auto neben dir an, Leute mit Waffen steigen aus und zerren dich in ein Auto. Du hast keine Chance.“ Auch John wird entführt. „Sie haben mich an einen Stuhl gefesselt und heißes, flüssiges Plastik auf meine Haut gegossen. Schau hier.“ Seine Folterer zwingen seine Familie, Lösegeld für ihn zu bezahlen 

Es ist nicht leicht, diese Berichte zu dokumentieren. Besonders frustrierend ist es zu wissen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die libysche Küstenwache aktiv logistisch und finanziell unterstützen."

Mir hat es sehr geholfen, in einem starken Team zu arbeiten und auch schöne Momente mit den Geretteten zu erleben.

Seenotrettung ist Teamwork 

Mehr als 20 Menschen arbeiten für Ärzte ohne Grenzen an Bord der Geo Barents, darunter Expert*innen für die Suche und Rettung auf dem Meer, ein fünfköpfiges medizinisches Team, Logistiker*innen und Kulturvermittler*innen.  

Ich selbst bin unter anderem verantwortlich für die Unterstützung der Geretteten, die Dokumentation ihrer Geschichten und die Ermittlung ihrer Schutzbedarfe.  

Ich spreche mit den Menschen und in Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen an Land versuchen wir ihnen so gut es geht weiter zu helfen. Das ist besonders wichtig für unbegleitete Minderjährige und alleinreisende Frauen. Außerdem vermitteln wir wichtige Informationen an die Geretteten, etwa über das Asylrecht. Darüber hinaus sammle ich Daten für die operationelle und politische Arbeit von Ärzte ohne Grenzen und dokumentiere, was die Geretteten mir erzählen.  

Ich arbeite eng mit den zwei Kulturmediator*innen an Bord zusammen. Ihre Rolle ist extrem wichtig: sie sind die "Brücke" zwischen den Geretteten und der Crew. Einer von ihnen ist selbst Syrer und konnte wie kein anderer das Vertrauen der Leute gewinnen. Auch die Zusammenarbeit mit dem größeren Team, etwa mit unserem medizinischen Personal, war sehr wichtig.  

Bei einer Rettung und auch in der Zeit danach muss jeder Handgriff sitzen. Wir haben sehr genau definierte Standardabläufe, die gut funktioniert haben, auch als wir zum Beispiel einmal mehr als 600 Gerettete an Bord hatten."

Medizinische Versorgung an Bord 

Priorität nach einer Rettung hat immer die medizinische Versorgung der Geretteten. Die Menschen haben Hautinfektionen, Schmerzen, Magen-Darmprobleme oder sind seekrank. Viele haben Verätzungen, die durch das Gemisch aus Benzin und Meerwasser entstehen, das sich in den hochseeuntauglich Booten sammelt, in denen die Menschen teilweise tagelang ausharren. Auch schwangere Frauen sind regelmäßig an Bord, im vergangenen Jahr wurde sogar ein Säugling an Bord der Geo Barents geboren.  

Ganz wichtig ist auch die psychologische Erste Hilfe an Bord. Die Menschen haben traumatische Erlebnisse hinter sich und viele sind das erste Mal seit Langem an einem Ort, an dem sie sich sicher fühlen können.  

Wie John haben viele Menschen Narben oder noch frische Verletzungen von ihrer Zeit in Libyen: Verbrennungen durch Elektroschocks oder flüssiges Plastik. Viele Gerettete leiden auch an durch Parasiten ausgelöste Hautkrankheiten wie Krätze. 

Ich kann mich gut an einen unbegleiteten fünfzehnjährigen Jungen aus Ägypten erinnern, der unter schrecklichem Juckreiz litt, nicht schlafen konnte und häufig unter Tränen zu uns kam, da er sich nicht zu helfen wusste. Als die Medikamente endlich anschlugen, war er wie ausgewechselt und seine Freude überschwänglich.  

Es geht hier um Menschen mit Geschichten, Träumen, Hoffnungen – und Rechten 

Bei all dem Schrecken, den man an Bord mitbekommt, scheinen die vielen kleinen, aber zutiefst menschlichen Momente ungleich schöner. Wenn wir zusammen Fußball spielen oder einfach aufs Meer schauen, das so schön und schrecklich zugleich ist. Oder wenn einzelne Gruppen an Bord allen Widrigkeiten zum Trotz an Deck ihre traditionellen Gesänge und Tänze aufführen.  

Wir dürfen niemals vergessen, dass es hier nicht um Zahlen, sondern um einzelne Menschen geht. Menschen mit Geschichten, Träumen, Hoffnungen – und Rechten. Die politischen Entscheidungen der EU-Staaten sind direkt für die Situation mitverantwortlich. Und wir können sie beeinflussen. Wie wir uns dazu verhalten, zeigt, wer wir sind."

*Die Namen wurden zum Schutz der Personen geändert.