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Tschad: Die mutigste Frau im Dorf

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Noor Cornelissen

Noor Cornelissen

Ich bin eine Projektkoordinatorin, die zurzeit mit Ärzte ohne Grenzen im Tschad arbeitet.

Im Tschad finden nur zwei von fünf Geburten im Beisein von ausgebildeten Geburtshelfer*innen wie Hebammen oder  Ärzt*innen statt. Eine zentrale Rolle spielen daher traditionelle Geburtshelferinnen. Wie würde eine Gesundheitsversorgung für werdende Mütter aussehen, die von den betroffenen Frauen selbst gestaltet wird? Meine Kolleg*innen und ich sind dieser Frage in der Provinz Sila im Südosten des Landes nachgegangen.

Wer Ohren hat, der höre

Mein aktueller Einsatz im Tschad ist ein Pilotprojekt, das dabei helfen soll, die Machtungleichheiten zwischen unseren Teams einerseits und den Patient*innen in den betroffenen Gemeinden andererseits zu überwinden und somit unbeabsichtigte negative Nebenwirkungen unserer Projekte zu minimieren.* Das wichtigste Werkzeug bei diesem partnerschaftlichen Ansatz: unsere Ohren. Also hören wir zu. 

Und während wir zuhören, erfahren wir, dass Mütter und Kinder sterben.

Allen Widrigkeiten zum Trotz 

Nach Angaben von UNICEF gehört die Säuglings- und Müttersterblichkeitsrate im Tschad zu den höchsten der Welt. Fehlgeburten. Stille Geburten. Frauen, die während der Entbindung sterben. Die Zahlen sind alarmierend.  
Menschen aus den betroffenen Gemeinden erzählen uns, dass sie die teils 30 Kilometer entfernten offiziellen Gesundheitseinrichtungen während der Regenzeit nicht erreichen können oder schlichtweg die Kosten für die Gesundheitsversorgung zu hoch sind.  
 
Die Frauen, denen es gelingt, eine Gesundheitseinrichtung zu erreichen, finden oft mangelhafte Strukturen vor. In einigen Krankenhäusern gibt es kein geschultes Personal, teilweise ist kein sauberes Material für die Entbindung vorhanden. Ein gesundes Kind und eine gesunde Mutter sind keine Selbstverständlichkeit, nirgendwo auf der Welt. Aber im Tschad stehen die Chancen sehr viel schlechter als anderswo. 

"Arbeitet mit uns!"

Wir sind bemüht, nicht nur die Herausforderungen der Menschen zu hören, sondern auch ihre Lösungsansätze. Und so sagt man uns in Sila: "Kommt in die Gemeinden. Kommt und arbeitet dort mit uns."  

Bisher haben wir vor allem in den bestehenden offiziellen Gesundheitsstrukturen wie Krankenhäusern oder Gesundheitszentren gearbeitet und von dort aus auch abgelegenere Gemeinden versorgt. Nun sollen wir unsere Arbeit in den Gemeinden selbst verankern und ihre Sicht auf die Dinge annehmen. 

Traditionelle Geburtshelferinnen

Das Herzstück der sexuellen und reproduktiven Gesundheitsversorgung auf Gemeindeebene in Sila sind die traditionellen Geburtshelferinnen. Dabei handelt es sich in der Regel um ältere Frauen, die andere Frauen bei der Entbindung unterstützen. Sie genießen meist großes Vertrauen und bieten Hilfe bei der Geburt, beim Stillen und in anderen Bereichen an. Die meisten traditionellen Geburtshelferinnen haben keine formale Ausbildung als Hebamme absolviert. Aber sie haben selbst Kinder entbunden. Genauso wie ihre Mütter und Großmütter. Außerdem werden sie von den Familien und Gemeinschaften selbst ausgewählt. 

Die traditionelle Geburtshelferin ist die mutigste Frau im Dorf. Sie hat keine Angst vor Blut. Sie kennt keine Scham. Sie ist da, um zu helfen.
- Souat, Hebamme aus dem Tschad 

"Aber sie hat weder die Ausbildung noch die Werkzeuge. Sie bringt das Baby auf dem Boden des Hauses der werdenden Mutter zur Welt. Mit einer Rasierklinge und ohne Desinfektionsmittel schneidet sie die Nabelschnur durch. Und sie verschließt die Wunde mit Wollfäden und allem anderen, was sie finden kann,"
berichtet mir Souat weiter.

Forschung und Debatte

In den weltweiten Debatte über das öffentliche Gesundheitswesen werden die traditionellen Geburtshelferinnen ambivalent betrachte, die sich im Laufe der Jahrzehnte geändert hat. Auch Forschungsergebnisse zu dem Thema lassen kein eindeutiges Bild entstehen. 

Einige wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass eine Ausbildung der traditionellen Geburtshelferinnen nicht zu einer Verringerung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit führt. Häufig werden in diesem Zusammenhang traditionelle Praktiken per se in Frage gestellt. 
Andere Forschungsergebnisse sprechen jedoch von den positiven Auswirkungen der traditionellen Geburtshelferinnen und dem großen Potenzial, das mit dem Vertrauen und Respekt für sie einhergeht. 

Allgemein wird anerkannt, dass der Mangel an qualifiziertem Personal in abgelegenen Gebieten eine große Lücke hinterlässt, die es zu füllen gilt. Und die Frage bleibt: wer außer den traditionellen Geburtshelferinnen soll einspringen? 

Die Patientin im Zentrum

Natürlich hat die sichere Versorgung werdender Mütter und ihrer Neugeborenen für uns höchste Priorität. Und vor diesem Hintergrund ist die zentrale Frage: Was sehen wir, wenn wir die Perspektive der Patientin einnehmen? Wie möchte die Patientin versorgt werden? Wo führt ihr Weg zuerst hin? Wem vertraut sie? Und welche Angebote sind für die Patientin einigermaßen zugänglich?

Wir hören zu. Und dann bauen wir das Projekt um die Patientinnen herum auf.

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Geburtshelferinnen sensibilisieren ihre Gemeinde für Frauen- und Säuglingsgesundheit

Lücken füllen und Bedürfnisse ermitteln

In einem ersten Schritt hin zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit bestimmten die Gemeinden in der Provinz Sila die traditionellen Geburtshelferinnen, mit denen sie weiter zusammenarbeiten möchten. Gemeinsam mit den ausgewählten Geburtshelferinnen ermittelten wir daraufhin bestehende Lücken und Bedürfnisse und entwarfen dann ein Ausbildungsprogramm, das ihre Praxis stärken soll. In den folgenden Wochen haben wir insgesamt 31 traditionelle Geburtshelferinnen darin geschult, Risiken vor, während und nach einer Entbindung zu erkennen und ihre Gemeinde für Mütter- und Säuglingsgesundheit zu sensibilisieren. 

Unsere Kollegin Souat kündigt zudem noch Materiallieferungen an: "In Zukunft werden wir an alle traditionellen Geburtshelferinnen Rucksäcke verteilen. Sie werden eine Bluse, Handschuhe, Rasierer, Schnüre, Desinfektionsmittel, eine Taschenlampe, Masken und Tücher sowie feste Stiefel erhalten, damit sie in der Regenzeit auch entlegene Gebiete erreichen können. Damit sind die Geburtshelferinnen dann für die Arbeit, die sie seit Jahren verrichten, bestens gerüstet.” 

Herausforderungen und Auswirkungen

Es ist so ein wertvolles Projekt. In den Jahrzehnten, die ich in diesem Bereich tätig bin, habe ich noch nie mit einem solchen Ansatz gearbeitet. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Keine der traditionellen Geburtshelferinnen kann lesen oder schreiben. Wir sind in dem, was sie und was wir tun können, eingeschränkt. Aber dieser Ansatz ist nachhaltig, er kann funktionieren.
- Augustine, leitende Hebamme im Tschad

Nach einigen Monaten können wir bereits erste positive Ergebnisse erkennen: Die Zahl der Schwangerenberatungen hat erheblich zugenommen. Auch die Überweisungen von Patientinnen mit Komplikationen unter der Geburt an das Gesundheitszentrum steigen an. Und die Geburtshelferinnen berichten uns, dass sie stetig an neuen Fähigkeiten und an Selbstbewusstsein dazugewinnen.  

Mit erhobenem Haupt

Dazu trägt auch das neue Entlohnungssystem bei, welches die Gemeinden entwickelt haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass  das Gesundheitspersonal der Gemeinden im Bereich der Müttergesundheit weltweit jährlich Dienstleistungen im Wert von 17 Billionen Dollar erbringt. Es handelt sich dabei meist um Frauen, die fast immer unbezahlt arbeiten. 
Auch in Sila haben die traditionellen Geburtshelferinnen ihre Arbeit bisher ohne finanzielle Entschädigung ausgeübt. Gelegentlich erhielten sie von den Familien der werdenden Mütter etwas Zucker, Öl, Seife oder Mehl. Jetzt haben die Gemeinden damit begonnen, eine monatliche Haushaltsabgabe zu erheben, um den traditionellen Geburtshelferinnen 5.000 XAF (8 Euro) pro Monat zu zahlen.

Ich habe jahrelang für meine Gemeinde gearbeitet. Jetzt tue ich es mit erhobenem Haupt.
- Traditionelle Geburtshelferin in einer unserer Schulungen 

Der Blick in die Zukunft

Für die Zukunft planen wir, die traditionellen Geburtshelferinnen auch in den Bereichen Schwangerenvorsorge, sexualisierte Gewalt, Familienplanung und weiteren Themen zu schulen. 
In Zusammenarbeit mit dem örtlichen Gesundheitsministerium werden wir ihre Arbeit begleiten und unterstützen. Und schon in den kommenden Monaten werden wir eine weitere Schulung mit 50 Geburtshelferinnen in einer anderen Region beginnen. 

Neuer Ansatz, neue Fragen

Wir haben den Menschen in den Gemeinden zugehört und das Zuhören hat uns einen neuen Weg gezeigt. Einen Weg voller Fragen und Dilemmata: Sollte nicht die Regierung anstelle der Gemeinden diese Verantwortung tragen? Stützen wir mit unserer Vorgehensweise ein kaputtes System? 

Wir sind uns bewusst, dass unser Ansatz einer sorgfältigen Bewertung bedarf und von politischen Forderungen begleitet werden muss, die auf strukturelle Defizite im Bereich der öffentlichen Gesundheit abzielen. 

In der Zwischenzeit werden wir jedoch weiter an der Seite unserer Patientinnen gehen – Schritt für Schritt. Denn schließlich ist es ihr Weg. 

*In einem anderen Blogbeitrag hat Noor Cornelissen über die Problematik bereits ausführlich berichtet.