Fragen und Antworten zur Seenotrettung
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Gründe für die Flucht übers Mittelmeer und für unseren Seenotrettungseinsatz
Warum nehmen Menschen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer auf sich?
Die Geretteten erzählen unseren Teams häufig, dass sie keine andere Möglichkeit hatten, als die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa zu wagen. Oft mussten sie vor Gewalt, Krieg, Verfolgung und Armut in ihren Heimatländern fliehen. Die meisten dieser Menschen haben Libyen durchquert, wo viele von ihnen Gewalt und Ausbeutung erlebt haben.
Bei dem Entschluss zur Flucht aus dem Heimatland und für den Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, spielt es erwiesenermaßen keine signifikante Rolle, ob Rettungsboote im zentralen Mittelmeer unterwegs sind.
Wenn die Menschen in unsicheren Booten auf dem offenen Meer unterwegs sind, sind sie in Lebensgefahr und müssen gerettet und in Sicherheit gebracht werden. Viele können nicht schwimmen und tragen keine Rettungswesten. Da es einen dramatischen Mangel an Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer gibt, kommen immer wieder Menschen bei dem Versuch ums Leben, die See mit untauglichen und oft völlig überfüllten Booten zu überqueren.
Warum ist Ärzte ohne Grenzen auf See aktiv?
Das zentrale Mittelmeer ist nach wie vor die tödlichste Seegrenze der Welt. Die europäischen Regierungen verschließen davor die Augen und lassen die Menschen stunden-, tage- und manchmal wochenlang ohne Hilfe auf dem Meer zurück. Die europäischen Staaten ziehen sich immer weiter aus den staatlich geführten Seenotrettung zurück. Diese Politik der unterlassenen Hilfeleistung führt dazu, dass Menschen zum Ertrinken verurteilt werden. Es bleibt Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen überlassen, Menschenleben auf See zu retten und darüber aufzuklären, welche dramatischen Folgen diese rücksichtslose Politik hat.
Sobald die Menschen außer Gefahr sind, sollte ihr medizinischer Bedarf und ihr Schutzbedarf individuell beurteilt werden. Unabhängig davon, ob sie in Europa bleiben können oder nicht, hat jeder Mensch das Recht, mit Würde und Menschlichkeit behandelt zu werden.
Warum sterben immer noch Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute?
Hunderte Menschen sind seit Anfang 2023 bereits bei dem Versuch, Europa über das zentrale Mittelmeer zu erreichen, ums Leben gekommen oder werden vermisst. Dies sind nur die offiziell dokumentierten Todesfälle. Viele Schiffbrüche bleiben ungemeldet oder werden nicht entdeckt.
Die Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten, Rettungseinsätze auf See zu unterbinden und zu kriminalisieren haben zu mehr Todesfällen im Mittelmeer geführt. Um schutzbedürftige Menschen in Libyen um jeden Preis von einer Flucht nach Europa abzuschrecken und aufzuhalten, unterstützen sie zudem die libysche Küstenwache politisch und materiell dabei, die Menschen zwangsweise nach Libyen zurückzubringen.
Die Übernahme der Such- und Rettungsmaßnahmen durch Nichtregierungsorganisationen ist keine Lösung für diese Krise. Sie ist vielmehr eine Notmaßnahme, die die Zahl der Todesopfer verringern soll. Deshalb fordern wir die EU auf, einen eigenen, staatlich geführten Mechanismus zur Rettung von Menschen auf See einzurichten. Denjenigen, die auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben ihr Leben riskieren, muss lebensrettende Hilfe und angemessene humanitäre Unterstützung gewährt werden.
Warum bringt Ärzte ohne Grenzen die Geretteten nicht nach Libyen oder Tunesien?
Die Geretteten können nicht nach Libyen zurückgebracht werden, da sie dort nicht sicher sind. Gesetzlich ist ein Rettungsschiff dazu verpflichtet, aus Seenot gerettete Menschen an einen sicheren Ort zu bringen. Die nächsten sicheren Häfen sind in Malta und Italien.
Die Lage in Libyen ist durch anhaltende Kämpfe und große Unsicherheit gekennzeichnet. Es gibt kein funktionierendes Asylsystem, das den Menschen angemessenen Schutz gewähren kann. Der Großteil der von uns aus Seenot geretteten Menschen war zuvor im Land und dort extremer Gewalt oder Ausbeutung ausgesetzt. Viele berichten von Raubüberfällen, Entführungen, Vergewaltigungen oder Erpressungen.
Die EU bietet der libyschen Küstenwache Trainings an, die aber statt auf die Achtung des Internationalem Seerechts oder der Menschenrechte bloß auf ein effizienteres Abfangen der Boote abzielen. Die von der libyschen Küstenwache aufgegriffenen Menschen werden in Internierungszentren gebracht, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne Rechtsschutz festgehalten werden.
Mehr Informationen zu unserer Arbeit in solchen Internierungszentren in Libyen finden Sie hier.
Auch Tunesien bietet Geflüchteten und Migrant*innen keinen ausreichenden Schutz. Trotz der Präsenz von Organisationen wie dem UNHCR und der IOM im Land ist es fragwürdig, ob die vorhandenen Maßnahmen ausreichen, um den mittel- bis langfristigen Bedarf an Rechts- und Schutzhilfe für beide Gruppen zu decken.
Da die Grundrechte und der Schutz dieser Menschen in Tunesien nicht garantiert sind, betrachtet Ärzte ohne Grenzen das Land derzeit nicht als einen sicheren Ort.
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Rechtliche Situation und Studien zu Seenotrettung
Werden Menschen durch Seenotrettungsschiffe im Mittelmeer zur Flucht motiviert?
Mehrere Studien beweisen, dass Menschen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer unabhängig davon antreten, ob zivile Seenotrettungsschiffe im Einsatz sind. Humanitäre Organisationen, die in der Seenotrettung arbeiten, bewahren jedes Jahr Hunderte von Menschen vor dem Ertrinken. Humanitäre Maßnahmen sind nicht die Ursache dieser fatalen Situation, sondern eine Reaktion darauf.
Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass es keinen entscheidenden „Pull-Faktor“ durch Rettungsschiffe im Zentralen Mittelmeer gibt.
Die jüngste Studie wurde von einem internationalen Team von Forscher*innen in 2023 veröffentlicht.
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DeZIM, Hertie School, Harvard University (Alejandra Rodríguez Sánchez, Julian Wucherpfennig, Ramona Rischke, Stefano Maria Iacus): Search-and-rescue in the Central Mediterranean Route does not induce migration
Weitere Studien:
University of London et al. (Charles Heller/Lorenzo Pezzani): Blaming the Rescuers-
Oxford University et al. (Elias Steinhilper/Rob Gruiters): Border Deaths in the Mediterranean
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Doctors without Borders Operational Research Unit LuxOr: Humanitarian NGOs conducting Search and Rescue Operations at Sea: A “pull factor”?
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Peace Research Institute Oslo: "Preventing the Work of Rescue Vessels in the Mediterranean Will Not Save More Migrants"
Helfen in der Seenotrettung engagierte NGOs den Schleuser*innen?
Alle Rettungsaktionen im Mittelmeer werden von Ärzte ohne Grenzen in voller Übereinstimmung mit internationalem Recht durchgeführt wie etwa dem internationalen Seerecht und dem SOLAS-Übereinkommen. Die Koordination findet immer durch die anerkannten Seenotrettungsleitstellen statt.
Als humanitäre Organisation stellen wir klar, dass der Zweck unserer Aktivitäten und Bemühungen auf See einzig und allein die Rettung von Menschen in Seenot ist.
Wie stehen Sie zur Kriminalisierung einiger Geretteter als Schmuggler*innen?
Die Menschen, die das zentrale Mittelmeer überqueren wollen, sind meist auf der Flucht vor der Gewalt und den unmenschlichen Bedingungen in Libyen. Alle, die mit unsicheren Booten unterwegs sind, befinden sich in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation – das gilt auch für diejenigen, die die Boote steuern.
Unsere langjährige Erfahrung zeigt zudem, dass einige Überlebende kurz nach der Abfahrt und oft unter Androhung oder Ausübung von Gewalt gezwungen wurden, ein Boot zu steuern. Das aggressive Vorgehen von Regierungen und Justiz gegen mutmaßliche Bootsführer*innen, die das Leben von Menschen gefährden, ist daher ungerechtfertigt.
Als Ärzte ohne Grenzen fordern wir größere Anstrengungen, um die Risiken dieser Überfahrten zu verringern, indem legale Einreisewege geschaffen werden, anstatt diejenigen zu kriminalisieren, die durch das Fahren eines Bootes versuchen, sich und andere in Sicherheit zu bringen. -
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Was fordert Ärzte ohne Grenzen?
Was ist mit der Forderung nach sicheren und legalen Wegen nach Europa gemeint?
Wir setzen uns dafür ein, dass jede*r ein Recht darauf hat, wie ein Mensch behandelt zu werden – unabhängig von der Frage, weshalb er*sie seine Heimat verlassen hat.
Asylsuchende müssen dringend die Möglichkeit bekommen, legal die Grenzen in die EU sowie innerhalb der EU zu überqueren. Außerdem müssen effektive Strategien der Umsiedlung von einem EU-Mitgliedsstaat in andere eingerichtet werden. Die Möglichkeit des Asylantrags muss an Eintrittspunkten sowie innerhalb von Europa und entlang von Migrationsrouten gewährleistet sein. Alle müssen nach ihrer Ankunft angemessen untergebracht, versorgt und schnell registriert werden.
Es gibt verschiedene Formen von sicheren und legalen Wegen nach Europa, beispielsweise Umsiedlung, humanitäre Visa, Familienzusammenführung, Arbeitserlaubnisse für Saisonarbeiter oder Visa für Studierende. Den Staats- und Regierungschefs der EU wurden vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und anderen Migrations- und Asylexpert*innen bereits umfassende Vorschläge unterbreitet. Die EU muss dringend anfangen, eine humane Migrations- und Asylpolitik zu erarbeiten und umzusetzen.
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Weltweite humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht
Wären Einsätze in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, nicht sinnvoller?
Ärzte ohne Grenzen arbeitet derzeit in rund 70 Ländern weltweit. Darunter sind auch viele Länder, aus denen die Menschen stammen, die über das Mittelmeer fliehen. Genauso sind Länder darunter, in denen die Menschen erste Zuflucht finden, über die sie weiterreisen oder in denen ihre Reise nach Europa endet. Unsere Projekte in diesen Ländern führen wir fort. Doch auch die Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, brauchen medizinische Hilfe. Da sie unterwegs sind, muss auch Ärzte ohne Grenzen in Bewegung sein, um sie zu erreichen.
Mehr über unsere Arbeit unter https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/themen-im-fokus/flucht-und-migration/seenotrettung