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Palästinensische Gebiete

„Todesfalle Gaza”: Report von Ärzte ohne Grenzen zeigt das extreme Ausmaß der Zerstörung

Durch anhaltende Angriffe, Belagerung und Blockaden zerstört Israel die Lebensgrundlagen in Gaza.

Jerusalem/Berlin, 19. Dezember 2024. Die wiederholten israelischen Militärangriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung in den vergangenen 14 Monaten, die Demontage des Gesundheitssystems und anderer wichtiger Infrastruktur sowie die systematische Blockade humanitärer Hilfe zerstören die Lebensgrundlagen im Gazastreifen, wie ein neuer Bericht von Ärzte ohne Grenzen zeigt.

Die internationale medizinisch-humanitäre Organisation ruft alle Konfliktparteien erneut dringend zu einem sofortigen Waffenstillstand auf, um Leben zu retten und humanitäre Hilfe ungehindert zu ermöglichen. Israel muss seine gezielten und unterschiedslosen Angriffe auf Zivilist*innen einstellen, und seine Verbündeten müssen unverzüglich handeln, um das Leben der Palästinenser*innen zu schützen und das Völkerrecht einzuhalten.

„Die Menschen im Gazastreifen kämpfen unter apokalyptischen Bedingungen ums Überleben. Nirgendwo ist es sicher, niemand wird verschont, und es gibt keinen Ausweg aus dieser zerstörten Enklave“, sagt Christopher Lockyear, Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen, der den Gazastreifen Anfang des Jahres besucht hatte.

„Die jüngste Militäroffensive im Norden ist ein deutliches Beispiel für den brutalen Krieg, den die israelischen Streitkräfte gegen den Gazastreifen führen. Wir sehen klare Anzeichen für eine ethnische Säuberung, da die Palästinenser*innen gewaltsam vertrieben, eingeschlossen und bombardiert werden“, sagt Lockyear.

„Was unsere medizinischen Teams während dieses Konflikts vor Ort gesehen haben, deckt sich mit den Beschreibungen einer wachsenden Zahl von Rechtsexpert*innen und Organisationen, die zu dem Schluss kommen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet. Wir sind keine rechtliche Autorität, die Vorsatz feststellen könnte, aber die Anzeichen für ethnische Säuberungen und die anhaltende Verwüstung – einschließlich Massentötungen, schweren körperlichen und psychischen Verletzungen, Zwangsvertreibung und unmöglichen Lebensbedingungen für Palästinenser*innen unter Belagerung und Bombardierung – sind unbestreitbar.“

Als Reaktion auf die schrecklichen Angriffe der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen in Israel am 7. Oktober 2023 – bei denen 1200 Menschen getötet und 251 Menschen als Geiseln genommen wurden – gehen die israelischen Streitkräfte gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens vor.  Seit Ausbruch des Krieges wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 45.000 Menschen im Gazastreifen getötet, darunter acht Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen. Die Zahl der kriegsbedingten Todesfälle in Gaza ist wahrscheinlich viel höher, da das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist, Krankheiten ausgebrochen sind und der Zugang zu Nahrung, Wasser und Unterkünften stark eingeschränkt ist. Die Vereinten Nationen schätzten Anfang des Jahres, dass mehr als 10.000 Leichen unter den Trümmern begraben sind. 

In dem Bericht von Ärzte ohne Grenzen mit dem Titel „Gaza: Life in a death trap” ist dokumentiert, dass die israelischen Streitkräfte verhindert haben, dass lebenswichtige Güter wie Lebensmittel, Wasser und medizinische Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen, und wie humanitäre Hilfe blockiert, verweigert und verzögert wird. Etwa 1,9 Millionen Menschen – 90 Prozent der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens – wurden gewaltsam vertrieben, viele von ihnen mehrfach.

Das Gesundheitssystem liegt in Trümmern. Weniger als die Hälfte der 36 Krankenhäuser in Gaza sind auch nur teilweise funktionsfähig. Während des Berichtszeitraums von einem Jahr, von Oktober 2023 bis Oktober 2024, mussten allein die Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen 41 Angriffe und gewalttätige Zwischenfälle erdulden, darunter Luftangriffe, Beschuss und gewaltsame Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen, direkter Beschuss von Unterkünften und Konvois der Organisation sowie willkürliche Festnahmen von Kolleg*innen durch israelische Streitkräfte.

Das medizinische Personal von Ärzte ohne Grenzen und die Patient*innen waren in 17 Fällen gezwungen, Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen zu evakuieren, wobei sie oft buchstäblich um ihr Leben rannten. Kriegsparteien haben in der Nähe medizinischer Einrichtungen Kampfhandlungen ausgetragen und dabei Patient*innen, Gesundheitspfleger*innen und medizinisches Personal gefährdet.

Unterdessen sind die körperlichen und psychischen Verletzungen der Palästinenser*innen überwältigend, und der Bedarf steigt weiter an. Die von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Einrichtungen haben mindestens 27.500 Konsultationen wegen Gewalt und 7.500 chirurgische Eingriffe durchgeführt. Die Menschen leiden sowohl an Kriegsverletzungen als auch an chronischen Krankheiten, die sich noch verschlimmern, wenn sie keinen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten und Medikamenten erhalten.

Die Zwangsvertreibung durch die israelische Armee hat die Menschen in unerträgliche und unhygienische Lebensbedingungen gedrängt, in denen sich Krankheiten schnell ausbreiten können. Infolgedessen behandeln die Teams von Ärzte ohne Grenzen eine große Anzahl von Menschen mit Erkrankungen wie Atemwegsinfektionen, Hautkrankheiten und Durchfall, die mit den sinkenden Wintertemperaturen noch zunehmen werden.

Kinder verpassen wichtige Impfungen, wodurch sie anfällig für Krankheiten wie Masern und Polio werden. Ärzte ohne Grenzen hat einen Anstieg der Fälle von Mangelernährung beobachtet, jedoch ist es aufgrund der weit verbreiteten Unsicherheit und des Fehlens geeigneter Maßnahmen zur Konfliktentschärfung unmöglich, eine vollständige Untersuchung zu Mangelernährung im Gazastreifen durchzuführen.

Während die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung im Gazastreifen immer geringer werden, haben die israelischen Behörden die medizinische Evakuierung von Menschen noch weiter erschwert. Zwischen der Schließung des Grenzübergangs Rafah Anfang Mai 2024 und September 2024 haben sie die Evakuierung von nur 229 Patient*innen genehmigt. Das sind 1,6 Prozent der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt eine Evakuierung benötigt hätten. Dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein. 

Die Lage im nördlichen Gazastreifen ist nach der jüngsten schweren israelischen Militäroffensive, bei der große Gebiete entvölkert und Berichten zufolge fast 2.000 Menschen getötet wurden, besonders schlimm. Der nördliche Teil des Gazastreifens, insbesondere das Vertriebenencamp Dschabalia, wird seit dem 6. Oktober 2024 erneut von den israelischen Streitkräften belagert.

Die israelischen Behörden haben die Menge an lebenswichtigen Hilfsgütern, die in den Norden gelangen dürfen, drastisch reduziert. Im Oktober 2024 war die Menge an Hilfsgütern, die den gesamten Gazastreifen erreichten, auf dem niedrigsten Stand seit Oktober 2023. Zum Vergleich: Im Oktober 2024 kamen im Durchschnitt täglich 37 Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern an, deutlich weniger als die 500 Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern vor dem 7. Oktober 2023.

„Seit mehr als einem Jahr ist unser medizinisches Personal in Gaza Zeuge einer unerbittlichen Kampagne der israelischen Streitkräfte, die durch massive Zerstörung, Verwüstung und Entmenschlichung gekennzeichnet ist“, sagt Lockyear. „Palästinenser*innen wurden in ihren Häusern und in Krankenhausbetten getötet. Sie wurden immer wieder gewaltsam in Gebiete vertrieben, die weder sicher noch unbedenklich für die Gesundheit sind. Die Menschen haben nicht einmal das Nötigste wie Nahrung, sauberes Wasser, Medikamente und Seife inmitten einer bestrafenden Belagerung und Blockade zur Verfügung.“  

Ärzte ohne Grenzen fordert die Staatengemeinschaft, insbesondere die engsten Verbündeten Israels, auf, ihre bedingungslose Unterstützung für Israel zu beenden und ihrer Verpflichtung nachzukommen, einen Völkermord in Gaza zu verhindern. 

Vor fast einem Jahr, am 26. Januar, forderte der Internationale Gerichtshof (IGH) von Israel „sofortige und wirksame Maßnahmen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen und die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser*innen im Gazastreifen zu verbessern.“ Israel hat keine nennenswerten Maßnahmen ergriffen, um dem Gerichtsbeschluss nachzukommen. Stattdessen hindern die israelischen Behörden Ärzte ohne Grenzen und andere humanitäre Organisationen weiterhin aktiv daran, lebensrettende Hilfe für die unter Belagerung und Bombardierung gefangenen Menschen zu leisten.

Die Staatengemeinschaft muss ihren Einfluss geltend machen, um das Leid der Bevölkerung zu lindern und eine massive Ausweitung der humanitären Hilfe im Gazastreifen zu ermöglichen. Als Besatzungsmacht sind die israelischen Behörden dafür verantwortlich, die schnelle, ungehinderte und sichere Bereitstellung humanitärer Hilfe in einem Umfang zu gewährleisten, der ausreicht, um die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen.

Stattdessen haben die israelische Blockade und die fortgesetzte Behinderung von Hilfslieferungen den Zugang der Menschen im Gazastreifen zu lebenswichtigen Gütern wie Treibstoff, Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten nahezu unmöglich gemacht. 

Gleichzeitig hat Israel beschlossen, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), den größten Anbieter von Hilfsgütern, medizinischer Versorgung und anderen lebenswichtigen Diensten für die Palästinenser*innen, praktisch zu verbieten. 

Ärzte ohne Grenzen wiederholt die Forderung nach einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand. Die Zerstörung des palästinensischen Lebens in Gaza muss aufhören. Ärzte ohne Grenzen fordert außerdem einen sofortigen und sicheren Zugang zum nördlichen Gazastreifen, um die Lieferung von humanitärer Hilfe und medizinischen Hilfsgütern an Krankenhäuser zu ermöglichen.

Während Ärzte ohne Grenzen weiterhin lebensrettende Hilfe im zentralen und südlichen Gazastreifen leistet, fordert die Organisation Israel auf, die Belagerung des Gebiets zu beenden und die lebenswichtigen Landgrenzen zu öffnen, einschließlich des Grenzübergangs Rafah, um eine massive Ausweitung der humanitären und medizinischen Hilfe zu ermöglichen.

Der Bericht von Ärzte ohne Grenzen stellt fest, dass selbst wenn die israelische Militäroffensive auf den Gazastreifen heute zu Ende ginge, die langfristigen Auswirkungen angesichts des Ausmaßes der Zerstörung und der außerordentlichen Herausforderungen bei der Gesundheitsversorgung im gesamten Gazastreifen beispiellos sein würden.

Eine überwältigende Anzahl von Kriegsverletzten ist von Infektionen, Amputationen und dauerhaften Behinderungen bedroht, und viele werden jahrelange Rehabilitationsmaßnahmen benötigen. Die Zahl der getöteten und verletzten Menschen sowie das psychische Trauma, das durch die extreme Gewalt, den Verlust von Familienmitgliedern und Wohnungen oder Häusern, die wiederholte Vertreibung und die unmenschlichen Lebensbedingungen verursacht wurde, werden Generationen prägen.

 

Report: "Life in a death trap"

Ein Bericht von Ärzte ohne Grenzen.

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Unser Teamleiter Media Relations Holger Vieth
Holger Vieth
- Media Relations