(B)Logbuch vom Seenotrettungsschiff „Prudence“
Stefan Dold ist Pressereferent von Ärzte ohne Grenzen in Berlin. Im Juli und August 2017 begleitete er für ein paar Wochen das Team auf dem Rettungsschiff Prudence im Mittelmeer und schrieb dieses (B)Logbuch.
Sonntag, 6. August 2017
Die verdrängte Katastrophe
Am Donnerstagvormittag ruft uns die Rettungsleitstelle in Rom schließlich zu einem der Schlauchboote, die wir in den Tagen zuvor schon immer erwartet haben: Ein windiges weißes Gummiboot mit einer umlaufenden Luftkammer, der Boden notdürftig verstärkt durch vier Holzplanken, aus denen die Schrauben weit hervorschauen, darauf 125 Menschen aus ganz Westafrika, von der DR Kongo bis zum Senegal. 19 Frauen sind darunter, zwei von ihnen sind schwanger, einige unbegleitete Minderjährige und sechs Kinder. Die jüngste der Geretteten ist die kleine Aubrey aus Kamerun, die mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf dem Boot ist und die ausgerechnet heute ein Jahr alt wird. Eine etwas ältere Frau, ebenfalls aus Kamerun, bricht unmittelbar nach Betreten des Schiffs in den Armen unserer Ärztin in Tränen aus. Sie erzählt, sie habe mitansehen müssen, wie ihr Mann in Libyen erschossen wurde.
Die Rettungsaktion und die ersten Stunden der Menschen an Bord verlaufen routiniert. Nachdem alle etwas geschlafen haben, beginnt eine Art Alltag an Bord: Die Menschen schlafen nachts auf dünnen Fleecedecken auf dem Holzboden, tagsüber finden sie sich in kleinen Gruppen zusammen. Ein- bis zweimal am Tag verteilen wir ein Päckchen mit Sesamtafeln, Saft und Rosinen. Das medizinische Team hält Sprechstunden in der Klinik ab. Abends versuchen wir, für etwas Ablenkung zu sorgen – am zweiten Tag zeigen wir an Deck den Film “Der König der Löwen”. Für die fünf älteren Kinder ist das sichtbar ein Erlebnis, aber auch die Erwachsenen versammeln sich fast vollzählig vor dem als Leinwand aufgespannten Laken.
Dieser “Alltag” dauert zweieinhalb Tage – so lange harren wir auf Anordnung der Seenotrettungsleitstelle in der Such- und Rettungszone aus, weil in unserem Gebiet derzeit kein weiteres Schiff kreuzt. Eine weitere Rettung wird es in dieser Zeit nicht mehr geben – wir erfahren aber über das Internet, dass die von der EU unterstützte libysche Küstenwache mehrere Boote auffindet und hunderte Menschen nach Libyen zurückbringt – in Internierungslager, die nach einem am Samstag öffentlich gewordenen internen Protokoll von EU-Diplomaten schlichtweg menschenunwürdig sind. Die libyschen Internierungslager begegnen mir auch ständig in den Geschichten der Menschen, die ich in diesen zweieinhalb Tagen nach und nach erzählt bekomme.
Diese Geschichten sind einerseits sehr individuell, andererseits gleichen sie sich. Verschieden sind vor allem die Gründe für das Verlassen der Heimat und das ursprüngliche Ziel. Zum Beispiel treffe ich Paul aus Kamerun (Name geaendert), der schon einige Jahre in Europa gelebt hat – in Lugansk in der Ostukraine, wo er eine Ausbildung zum Physiotherapeuten gemacht hat. Als sein Adoptivvater starb, kehrte er zunächst zurück und zog dann mangels Job mit seiner Frau nach Algerien und Marokko, wo er drei Jahre lang schwarz auf dem Bau schuftete. Nachdem er mehrmals um seinen Lohn betrogen worden war, ging er nach Libyen. Ein Freund hatte ihm berichtet, dort gebe es Arbeit. Doch die Reise wird zum Alptraum: Nach wenigen Tagen werden die beiden gekidnappt und in einem irregulären Gefängnis im Innenhof eines Landgutes eingesperrt. 1.000 Euro müssen sie pro Person für ihre Freilassung zahlen. 1.500 Euro treibt die Familie zu Hause irgendwie auf und schickt sie, für den Rest muss Paul zweieinhalb Monate lang auf einer Baustelle arbeiten. Danach setzen die Wärter die beiden auf ein Boot im Mittelmeer – einen anderen Weg aus diesem Gefängnis heraus gibt es nicht.
Spätestens in Libyen gleichen sich alle Geschichten. Und sie strotzen von so viel Brutalität und Menschenverachtung, dass ich oft zögere, ob es richtig ist, weiter zu fragen. Bei manchen, bei denen ich spüre, dass sie viel durchgemacht haben, fange ich gar nicht erst an (und weise stattdessen darauf hin, dass sie in der Klinik oder bei unserer Psychologin Unterstützung suchen können), bei anderen breche ich ab. In jedem Fall erkläre ich vorher, warum wir von Ärzte ohne Grenzen einige dieser Berichte dokumentieren möchten, und immer wieder spüre ich auch, dass Einzelne wollen, dass die Welt erfährt, was sie durchgemacht haben.
Zum Beispiel Pape (Name geändert), ein schüchterner 18-jähriger aus dem Senegal, der aber sofort anbietet, mit mir zu sprechen. Schon auf der sechstägigen Fahrt durch die Sahara musste er mitansehen, wie zwei Frauen und zwei Männer den Halt auf der Ladefläche verloren und vom Wagen fielen, dem sicheren Tod geweiht. Denn die Pick-ups halten auf dem Weg durch die Wüste niemals an. In der südlibyschen Stadt Sabha angekommen, brachte der Fahrer die Überlebenden direkt in ein Gefängnis mit hunderten Schwarzafrikanern, das so überfüllt war, dass die Gefangenen in Schichten schlafen mussten. Einer der Geretteten berichtete mir, dass die Neuankömmlinge an die Besitzer der Lager regelrecht verkauft werden. Diese verkaufen sie dann entweder weiter oder pressen deren Familien aus. Frauen würden zu einem deutlich höheren Preis verkauft, denn sie würden dann oft in die Prostitution gezwungen. Paul berichtete, sie alle seien täglich mit Kabeln und Stangen auf den Rücken und die Fußsohlen geschlagen worden, und er zeigte mir die Narben auf seiner Haut. Wer krank wurde, erhielt keine medizinische Hilfe. Einer von Pauls Freunden war irgendwann so schwach, dass sie ihn füttern und ihm helfen mussten. Eines Tages holten ihn die Wachen ab und er verschwand. Alle sind sich sicher, dass sie ihn einfach irgendwo in der Wüste zurückließen.
Es gibt nicht viel, was unser Team angesichts dieses Horrors für diese Menschen tun kann. Wer sich den Ärzten anvertraut, wird untersucht und erhält ein Zertifikat, das seine Aussage und die körperlichen Folgen von Folter und Misshandlungen belegt. Besonders Schutzbedürftige, insbesondere Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, vermittelt das Team an Behörden und Hilfsorganisationen in Italien, die spezielle Hilfsprogramme für sie betreiben. Aber es ist davon auszugehen, dass wir die meisten Fälle in der kurzen Zeit auf dem Boot gar nicht erkennen.
Unser Projektleiter auf dem Schiff hat während dieser Fahrt mehrmals gesagt: Er glaube, dass das Ausmaß der Gewalt in Libyen erst in einigen Jahren in die Geschichtsbücher eingehen werde, aber jetzt wolle sie niemand sehen. Ich glaube, er hat Recht. Obwohl die menschlichen Katastrophen in den Internierungslagern gut dokumentiert sind, werden sie in der politischen Debatte um Flüchtlinge oft verdrängt oder einfach übergangen. Ansonsten müsste sich Europa ja auch ganz anders fragen, wie es mit den Überlebenden umgeht. Und ob es wirklich vertretbar ist, Menschen vom Meer wieder nach Libyen zurückzubringen, wie es jetzt erst wieder der bayerische Innenminister vorgeschlagen hat.
Am Samstagabend nehmen wir Abschied von den Menschen, die wir zweieinhalb Tage lang ein wenig kennengelernt haben. Wir transferieren sie spätabends auf zwei Boote der italienischen Küstenwache, die sie nach Lampedusa bringen. Zuvor haben sie uns gebeten, mit dem ganzen Team auf das Deck zu kommen. Sie haben eine Rede geschrieben, um uns, der Schiffscrew und Ärzte ohne Grenzen zu danken. Mehrere ergreifen spontan das Wort, einer improvisiert sogar einen Song. Es ist ein emotionaler Abschied.
Am Ende erhebt sich die Frau, deren Mann in Libyen erschossen worden ist, und bittet um einen Moment des Gedenkens an die Menschen, die heute Abend nicht mehr dabei sein können. Für einige Sekunden halten wir zusammen inne – 125 aus Seenot Gerettete aus Westafrika und 20 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen – und schweigen.
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Mittwoch, 2. August 2017
Was passiert in Libyen?
Seit mehr als einer Woche warten wir auf der Prudence auf unsere nächste Rettung nach dem Nachteinsatz am vergangenen Montag. Zunächst setzte am Dienstag stürmischer Wind ein. Weil bei den meterhohen Wellen keine weiteren Bootsstarts von der libyschen Küste möglich waren, gingen wir für zwei Tage in Malta vor Anker. Am Samstag, als die See vor Libyen wieder ruhig war, war die Prudence zurück. Seither halten wir fünf Tage lang erfolglos Ausschau nach Booten. Es gab zwar in den vergangenen Tagen immer wieder Rettungsaktionen anderer Schiffe – und leider auch mehrere Todesfälle – aber es sind deutlich weniger Flüchtlingsboote als in den Wochen zuvor.
Die große Frage ist: Was passiert in Libyen, hinter der Küstenlinie, die wir bei klarem Wetter verschwommen durch unsere Ferngläser ausmachen können? Ist die geringe Zahl an Flüchtlingsbooten ein Anzeichen, dass sich im Kräfteverhältnis der Milizen und Schmuggler etwas geändert hat? Oder ist es nur die immer wieder auftretende Pause, bevor besonders viele Boote gleichzeitig in See stechen? Wir wissen es nicht.
Der zweite Unsicherheitsfaktor ist: Was ändert sich dadurch, dass Ärzte ohne Grenzen – mit großer Zustimmung des Teams hier an Bord – am Montag beschlossen hat, den Verhaltenskodex der italienischen Regierung nicht zu unterzeichnen. Wird die Seenotrettungsleitstelle in Rom uns nur noch zu Hilfe rufen, falls kein anderes Boot in unmittelbarer Nähe ist? Auch das wissen wir nicht.
Was wir aber sicher wissen, ist, dass die Situation von Flüchtlingen und Migranten in Libyen weiterhin katastrophal ist. Ich habe bei der letzten Rettung vor einer Woche selbst die Spuren von Misshandlungen auf dem Rücken eines 22-jährigen Nigerianers gesehen. George (Name geändert) erzählte mir, er sei in der südlibyschen Stadt Sabha entführt und in einem völlig überbelegten Lager gefangengehalten worden. Die Wärter zwangen ihn, seine Familie anzurufen und verlangten umgerechnet 700 Euro für seine Freilassung. Währenddessen schlugen sie ihn und die anderen Insassen mit Stangen und Schläuchen, versetzten ihnen sogar Elektroschocks. Besonders schlimm war es montags, wenn sie ihre Kontrollrunden drehten, um zu überprüfen, wessen Familie noch nicht bezahlt hatte. Ein Mann, der immer direkt vor George geschlafen hatte, ist eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Er war tot. George selbst hat keinen Vater mehr, und seine Familie konnte kein Geld für seine Freilassung auftreiben. Ganze sieben Monaten saß er in diesem Folterknast, und wurde nur freigelassen, weil er irgendwann so krank war, dass man ihn laufenließ.
Die entsetzlichen Zustände in libyschen Internierungslagern sowie Berichte über gezielte Erpressung und willkürliche Misshandlung von Migranten in Libyen sind mittlerweile sehr gut dokumentiert: Die UN-Mission in Libyen hat im Dezember einen Report mit dem Titel „Detained and Dehumanised“ veröffentlicht, der zahlreiche ähnliche Berichte wie den von George systematisch ausgewertet hat. UNICEF hat in dem Bericht „A Deadly Journey for Children“ beschrieben, dass auch Zehntausende Kinder misshandelt und missbraucht werden. Die Internationale Organisation für Migration sprach in einer Pressemitteilung im April von modernen „Sklavenmärkten“ in Libyen. Und ich kenne natürlich die Berichte der Teams von Ärzte ohne Grenzen über die entsetzlichen Zustände selbst in den offiziellen Lagern in Tripolis.
Vor diesem Hintergrund ist es für mich ein Skandal, dass die EU immer ungenierter die libysche Küstenwache unterstützt, die die von ihr auf dem Meer aufgebrachten Flüchtlinge in eben diese Lager sperrt. Italiens Parlament hat heute sogar beschlossen, Marineschiffe nach Libyen zu schicken – nachdem die anderen EU-Staaten, inklusive der Bundesregierung, Italien bei der Aufnahme und der Bearbeitung der Asylanträge der Geflohenen im Stich gelassen haben. Die italienischen Kriegsschiffe sollen die libysche Küstenwache dabei unterstützen, Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen. In der EU scheint sich alles nur noch um den Schutz von Grenzen zu drehen, statt um den Schutz von Menschen.
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Montag, 24. Juli 2017
Erste Rettung
Heute Morgen um fünf Uhr war es soweit: Unsere erste Rettungsaktion. Die Crew lässt das Schlauchboot der Prudence mit zwei Piloten und einem „cultural mediator“ zu Wasser, das ganze Team hat sich trotz der Uhrzeit vollzählig in Rettungsweste und Helm an Deck versammelt. Von der Brücke war kurz zuvor ein kleines Holzboot gesichtet worden, schwach beleuchtet. Bald erreichen uns die ersten Funksprüche unseres Schlauchboot-Piloten: mehr als zwanzig Menschen, darunter Kinder und Frauen, eine Schwangere, aber offenbar alle wohlauf. Als erstes werden Rettungswesten verteilt.
Nach drei Tagen Ausschauhalten waren wir nun erstmals gefordert. Nach einem ausgeklügelten Plan hat jeder in diesem wichtigen Augenblick seine Aufgabe an Deck, um die Menschen sicher an Bord zu bringen: Zwei kräftige Männer helfen beim Einstieg über die Strickleiter, die Leiterin des medizinischen Teams checkt alle Ankommenden auf Notfälle, die Ärztin und die Hebamme sind schon auf die Schwangere und die Kinder vorbereitet. Ein Sicherheitsbeauftragter untersucht die Menschen auf gefährliche Gegenstände, die Logistiker verteilen Rucksäcke mit dem Nötigsten, die „cultural mediators“ erklären – diesmal auf Arabisch und Englisch – die ersten Schritte, die Deckmanagerin reagiert sofort auf alle Erfordernisse. Mein Job ist es, die Ankommenden zu zählen: 17 Männer, 5 Kinder, 3 Frauen – Syrer, Palästinenser, Jemeniten und Nigerianer.
Nach der ersten Beruhigung beginnen Gespräche. Uns alle beeindruckt wohl am meisten Samira (Name geändert), die schwangere Palästinenserin, die alleine mit fünf Kindern unterwegs ist. Aus ihrem Flüchtlingslager im Libanon ist sie geflohen, weil radikale islamistische Gruppen wiederholt ihren 18-jährigen Sohn, der an Epilepsie leidet, rekrutieren wollten. Über Syrien, den Sudan und Libyen ist sie nun auf der „Prudence“ angekommen, auf dem Weg zu ihrem ältesten Sohn in Hamburg. Als ich sie nach ihrer Flucht frage, erzählt sie als erstes von dem entsetzlichen Weg durch die Sahara nach Libyen. Sie waren zu Dutzenden auf einen überfüllten großen Pick-up gepfercht worden. Als plötzlich bewaffnete Männer auftauchten und in die Luft schossen, gab der Fahrer Vollgas, der Wagen knallte in die Schlaglöcher. Zwei Eritreerinnen fielen von der Ladefläche und starben, eine von ihnen, weil sich eine Operationsnarbe am Bauch öffnete. Die Frau hatte ein sieben Monate altes Baby bei sich, das noch in der Wüste von einer anderen eritreischen Familie adoptiert wurde.
Mir fällt auf, dass Samira im Gegensatz zu den anderen nicht zuerst von ihren eigenen schlimmen Erfahrungen auf der Flucht erzählt, sondern vom Schicksal dieser Frauen. Ihre kleine Tochter verteilt derweil die Kekse aus ihrem Willkommensrucksack an alle Crewmitglieder, die ihr gerade über den Weg laufen.
Und dann höre ich noch die Geschichte von Karim (Name geändert), der bei der Ankunft an Deck zu jedem Teammitglied einzeln hingelaufen ist, und der mir die ganze Absurdität der derzeitigen Flüchtlingspolitik vor Augen führt. Der Palästinenser kurz vor der Rente, der aus dem belagerten und fast völlig zerstörten Stadtteil Jarmuk der syrischen Hauptstadt Damaskus kommt, hat alles verloren, was er sich in vielen Jahren aufgebaut hatte. Jetzt möchte er nichts weiter, als mit seiner Frau und seinem 22-jährigen Sohn in Frieden zu leben, die es bis Aachen geschafft haben. Aber es gibt keinen legalen Weg für ihn dorthin. Als Syrer kann er nicht einmal in eines der Nachbarländer flüchten – der einzige Staat der Region, in den er ohne Visa einreisen kann, ist der Sudan. So ist er dorthin geflogen und hat sich in die Hände von Schleppern begeben, um die lebensgefährliche Route durch die Sahara und über das Mittelmeer zu nehmen. Die einzige, die ihm blieb.
Das Beispiel von Karim zeigt mir, dass Menschen auf der Flucht auch einen noch so gefährlichen Weg nehmen werden, um in Sicherheit mit ihren Angehörigen zu leben. Wie viele sind auf dem Weg zu ihren Verwandten, die sie nicht nachholen konnten, wohl gestorben? Karim ist dankbar, dass er überlebt hat, und er zeigt das allen an Bord.
Doch dann müssen wir uns schon wieder verabschieden: Auf Anweisung der Seenotrettungsleitstelle in Rom übernimmt die „Phoenix“ der Organisation MOAS, die ohnehin nach Italien fährt, die Geretteten. Als das Schlauchboot ablegt, winkt Samiras Tochter uns allen noch einmal zu.
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Mittwoch, 19. Juli 2017
Aufbruch in stürmischen Zeiten
Die See ist etwas unruhig, als die „Prudence“ am Mittwochnachmittag aus dem Hafen von Augusta auf Sizilien ausläuft. An Deck des von Ärzte ohne Grenzen gecharterten Rettungsschiffs bereitet das Team gerade die Rettungswesten für den nächsten Einsatz vor, die wir als erste Massnahme auf den Schlauchbooten verteilen werden. Unser Ziel sind die internationalen Gewässer vor der libyschen Küste, wo in den vergangenen Wochen erneut Tausende Menschen auf überfüllten Schlauch- und Holzbooten in akuter Lebensgefahr waren. 2.365 Bootsflüchtlinge sind laut UNHCR in diesem Jahr schon im Mittelmeer ums Leben gekommen, ein Mensch alle 30 Minuten – und das sind nur die bekannten Todesfälle.
Während ich auf Sizilien auf das Eintreffen der „Prudence“ wartete, verfolgte ich die aufgeheizte Debatte, die über diese Flüchtlinge und Migranten in Europa geführt wird. Am Tag vor unserer Abfahrt hat Innenminister Thomas de Maiziere den Seenotrettern schwere Vorwürfe gemacht, ohne konkrete Belege zu nennen. Schon Anfang des Monats haben italienische Politiker Alarm geschlagen – wegen der hohen Ankunftszahlen, nicht wegen der vielen Toten. Die Innenminister der EU haben daraufhin Aktionspläne verabschiedet – die allerdings nicht vorsehen, die Seenotrettung auszuweiten. Als größeres Problem gelten scheinbar nicht die 2.300 Toten, sondern die 90.000 Angekommenen. Und es wird immer wieder betont, dass viele von ihnen ursprünglich aus Gebieten kommen, in denen kein Krieg herrscht.
Was dabei aber völlig aus dem Blick gerät, sind die Geschichten, die diese Menschen zum Beispiel dem Team auf der „Prudence“ über den Horror erzählen, den sie in Libyen durchmachen. Bei der letzten Fahrt traf meine Kollegin etwa einen jungen Mann aus Mali, der mit einem Hammer geschlagen worden war und davon eine große Narbe am Rücken davongetragen hatte. Einen Guineer, dem man Zigaretten auf dem Handrücken ausgedrückt und Gewehrkolben über den Schädel geschlagen hatte. Eine Nigerianerin, die fünf Monate in einem Internierungslager gefangen war und dort ihr Kind ohne Hilfe zur Welt bringen musste – sie durchtrennte die Nabelschnur mit einer Rasierklinge. „Die Situation in Libyen war nicht gut, und sie ist immer schlechter geworden“, erzählte eine weitere Frau aus Nigeria. „Entführt zu werden, ist etwas Normales geworden. Man ist zur Arbeit gegangen, und wenn man wiederkam, war plötzlich ein Freund verschwunden. Es gibt keine Sicherheit dort. Ich hatte so viel Angst, als ich in das Boot stieg, aber es war der einzige Ausweg für mich und mein Baby.“ Das Team hat auf dieser Fahrt auch wieder Menschen angetroffen, die Opfer von Folter oder Menschenhandel geworden waren, und um die sich das Team auf dem Schiff besonders kümmert.
Während ich auf Sizilien auf die „Prudence“ gewartet habe, habe ich auch Oussama aus Tunesien kennengelernt, der bereits dreimal auf Rettungsschiffen von Ärzte ohne Grenzen im Einsatz war und zusammen mit mir an Bord gegangen ist. Als so genannter „cultural mediator“, der Arabisch, Französisch, Englisch und Italienisch spricht, hatte er dabei von allen Crew-Mitgliedern mit den engsten Kontakt zu den geretteten Menschen. In seinem Blog hat er aufgeschrieben, welchen entsetzlichen Leidensweg ein junger Nigerianer und zwei nordafrikanische Frauen in Libyen durchmachen mussten.
Als ich abends auf dem Oberdeck die Sonne über dem Südzipfel Siziliens versinken sehe, frage ich mich, welche Geschichten ich in den kommenden Tagen hören werde. Den ganzen Tag haben wir uns auf die Abläufe bei den Rettungsaktionen vorbereitet. Ich freue mich, mit einem so erfahrenen Team unterwegs sein zu können, aber ich hoffe, dass wir den Notfallplan für Situationen mit mehreren bewusstlosen oder schwer verletzten Menschen auf einmal nicht anwenden müssen. Und dass wir keine Toten an Bord nehmen müssen. Das ist letztlich auch das Ziel dieser Fahrt: Das unsrige dazu beizutragen, dass die Zahl der 2.365 Toten nicht weiter steigt.