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Bericht aus einem zerrissenen Land

Unser Arzt Dr. Tankred Stöbe koordinierte im Januar 2017 eine medizinische Erkundungsfahrt durch Libyen. Das Land ist weiterhin durch die Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppierungen gespalten. Die humanitäre Lage hat sich durch den Wiederausbruch des Bürgerkriegs und die unstabile politische Lage seit Mitte 2014 weiter verschlechtert. Millionen Menschen in ganz Libyen, darunter viele Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, sind betroffen. Hier erzählt Tankred Stöbe von seinen Begegnungen mit Menschen in oftmals verzweifelter Lage und davon, wie er die Situation in den unterschiedlichen Städten - von Misrata und Tripolis - erlebt hat.

Unsere Hilfe in Libyen finden Sie hier im Überblick: Ärzte ohne Grenzen behandelt inhaftierte Flüchtlinge und Migranten

 

Misrata: der Pflege- und Ärztenotstand ist weniger dramatisch als im Osten

 

„Ismahil und Masjdi waren 19-jährige Studenten, als die Aufstände in Libyen 2011 losbrachen, und wie Tausende mit ihnen griffen sie voller Idealismus und Leidenschaft, aber ohne Ausbildung und Kampfstrategie zu den Waffen gegen die Regierung Gaddafi. Kennengelernt haben sich die beiden erst später auf Malta, nachdem sie nur knapp dem Tod entronnen waren.

Im Kampf waren sie durch Kopfschüsse lebensbedrohlich verletzt auf die Mittelmeerinsel evakuiert worden. Masjdi verlor sein Augenlicht, Ismahil ist weitgehend gelähmt und kann nur noch seine rechte Hand bewegen. Als sie auf der Intensivstation von der Beatmung entwöhnt langsam wieder zu sprechen begannen, war das der Beginn einer engen Freundschaft. Für weitere Rehabilitationsmaßnahmen wurden sie dann getrennt, doch hielten sie Kontakt und treffen sich jetzt in Misrata, sooft sie können und bestätigen einhellig: ‚Heute sind wir wie Brüder‘. Masjdi schiebt den Rollstuhl des Freundes, und Ismahil liest dem Erblindeten etwas vor.

Misrata hat eine lange Geschichte, die Stadt liegt strategisch günstig am Mittelmeer und ist seit jeher bekannt für ihren Stolz und ihre Unabhängigkeit, ihre Händler, Schmuggler und Piraten. Hier eskalierte der Konflikt von Februar bis Mai 2011. Heute zeigt sich eine geschäftige, staubig-sandige Wüstenstadt mit einer starken wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung. Die Krankenhäuser sind besser ausgestattet und der Pflege- und Ärztenotstand ist weniger dramatisch als im Osten. Im Vergleich zu Bengasi und Tripoli ist die Stadt derzeit recht sicher und wurde unsere Basis.

Das Straßenbild prägen unzählige Menschen aus Subsahara-Afrika, die an den Kreuzungen ihre Erntegeräte, Bauwerkzeuge, Pinsel und Presslufthämmer aufstellen und sich als Tagelöhner anbieten. Wenn sie an den Polizeikontrollstellen der Einfallstraßen gefasst werden, landen sie in einem der Internierungslager und werden in ihre Heimatländer zurückgeschickt, allerdings werden sie nur selten aufgegriffen. Geschätzt leben derzeit 10.000 Arbeitsmigranten allein in Misrata, sie kommen hauptsächlich aus Niger, dem Tschad und Sudan. Immer in Angst, aufgegriffen und deportiert zu werden, suchen sie im Krankheitsfalle meist nur eine Apotheke auf und kaufen, was dort empfohlen wird, auch wenn das eher ökonomischen denn medizinischen Kriterien folgt. Bei ernsthaften Beschwerden gehen sie in private Praxen, die zwar teuer sind, aber anders als die öffentlichen Krankenhäuser nicht gezwungen werden, Menschen ohne Papiere der Polizei zu melden. Bei chronischen Erkrankungen bleibt ihnen nur die Rückkehr nach Hause. Auf meine Frage, ob sie nicht vorhaben, mit dem Boot nach Europa überzusetzten, schütteln sie lächelnd den Kopf: Das sei doch viel zu gefährlich, sie wollten doch nicht im Meer ertrinken.

Gefangenenlager zwischen Misrata und Tripolis bietet ein erbärmliches Bild

Das Gefangenenlager in einer Kleinstadt auf halbem Weg nach Tripoli bietet ein erbärmliches Bild. Bei einer maximalen Aufnahmekapazität für 400 Flüchtlinge sind jetzt nur 43 anwesend, sie kommen aus Ägypten, Guinea, Niger und Nigeria. Als Gruppe waren 39 Nigerianerinnen vor Monaten aus ihrer Heimat aufgebrochen, weil ihr Zuhause zerbombt wurde. Die libysche Küstenwache hatte sie in einem kleinen Schlauchboot nahe der Mittelmeerküste abgefangen und in das Internierungslager gebracht. Seit einem Monat sind die Frauen hier gefangen, ohne Kontakt zur Außenwelt oder zu ihren Familien.

Die kleinen Schlafräume sind verschmutzt, die Matratzen verfilzt, schon auf dem Flur mit Urinpfützen kommt mir ein ätzender Gestank  entgegen. Der Boden des Waschraumes ist knöcheltief mit Kot und Urin bedeckt. Die Wasserhähne funktionieren nicht und Duschen gibt es keine, ihre Notdurft müssen sie in Eimern verrichten, die dann in diese Lache entleert werden. Für ihre Körperpflege zweigen sie etwas Trinkwasser ab. Die Frauen sind verzweifelt, immer wieder flehen sie mich an, ich möge doch ihre Rückkehr in die Heimat erwirken. Meine Erklärung, ich sei Arzt und kein Botschafter, überzeugt sie erst nicht, immerhin nehmen sie unser medizinisches Hilfsangebot an. Mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren sind die Flüchtenden jung, aber fast alle (93 Prozent) haben Beschwerden. Die meisten leiden an infektiöser Haut-Krätze (58 Prozent), die entsprechenden Medikamente haben wir glücklicherweise dabei. Als zweithäufigste Beschwerden nennen sie Körperschmerzen (48 Prozent). Unspezifische Schmerzen sind oft Ausdruck erlittener seelischer Traumata, auch ihre Fluchtgeschichten und augenscheinliche Verzweiflung lassen das vermuten. Meine Frage, ob sie denn noch einmal versuchen werden, nach Europa zu kommen, antworten sie mit Entsetzen: Niemals!

Sirte: Nichts als Ruinen übrig

Beeindruckend war der Besuch in Sirte. Der Ort ist für seine reichen Ölvorkommen bekannt und als Geburtsstätte von Muammar al-Gaddafi. Seit Frühjahr 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) die Stadt zu seiner Hochburg und kontrollierte zudem einen 300 Kilometer langen Küstenstreifen. Erst im vergangenen Dezember konnten Milizen aus Misrata mit amerikanischer Luftunterstützung die Stadt zurückerobern. In der sieben Monate dauernden Schlacht verloren unzählige Kämpfer ihr Leben, über 3.000 wurden verletzt. Zehn Rettungsfahrzeuge wurden zerschossen und drei Sanitäter wurden getötet. Mit einer Sondergenehmigung und Polizeieskorte durften wir in diese nun vollständig abgeriegelte Ruinenlandschaft. Nichts ist hier unbeschädigt geblieben, eine Kriegsgewalt unvorstellbaren Ausmaßes hatte alles zerstört, nun lag eine gespenstische Stille über dem Ort.

Unser Ziel war das Ibn Sina-Krankenhaus, hier waren die Bombeneinschläge geringer, allerdings haben über ein Jahr Vandalismus und Vernachlässigung deutliche Spuren hinterlassen. Die zuvor moderne 350-Betten Klinik mit verschiedenen OPs, Intensivstationen, CT, MRT, Herzkatheter-Labor und 20 fast neuen Dialysemaschinen. Noch ist unklar, wann die Stadt und das Krankenhaus wieder zugänglich gemacht werden, ob eine Instandsetzung überhaupt möglich sein wird.*

Tripolis: Menschen auf der Flucht vor extremer Armut und Terror

Bei unserer Fahrt nach Tripolis imponieren zunächst die halbfertigen Hochhausruinen. Unsere  Kollegen von Ärzte ohne Grenzen versorgen in der Hauptstadt in acht Internierungslagern derzeit etwa 800 Flüchtlinge.

Der Großteil jener Menschen, die auf der zentralen Mittelmeerroute nach Italien wollen, stammt aus Subsahara-Afrika, aus Staaten wie dem konfliktgeplagten Nigeria, dem autoritären Eritrea, dem Bürgerkriegsland Somalia. Sie machen sich auf, weil sie vor extremer Armut und Terror fliehen. Bis zur Mittelmeerküste müssen sie über Tschad und Niger, diese bitterarmen Länder durchquerten laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Jahr über 300.000 Menschen. Genaue Zahlen, wie viele von ihnen bereits auf dem Weg nach Libyen sterben, verhungern, verdursten oder von einem der überfüllten Lastwagen fallen, gibt es nicht. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens ebenso viele Flüchtende in der Wüste umkommen wie im Mittelmeer ertrinken, nur werden diese Toten noch unzuverlässiger gezählt. Die Überlebenden erzählen uns immer wieder, dass die Wüstendurchquerung der schlimmste Teil ihrer Flucht war.

Auch die toten Geflüchteten bedeuten eine komplexe Herausforderung. Die Kühlhäuser der Kliniken entlang der Küste sind voll von unbekannten Leichnamen, die an den Stränden angeschwemmt wurden oder die sterblichen Überreste von Menschen sind, die im Land verstarben. Viele liegen dort seit Jahren, ohne eine DNA-Analyse können ihre Angehörigen nicht ermittelt, können sie nicht zurückgeführt oder bestattet werden.“

Der Bericht beruht auf persönlichen Erfahrungen von Dr. Tankred Stöbe im Januar 2017. Aufgrund der instabilen Verhältnisse kann sich die Lage vor Ort innerhalb kürzester Zeit ändern. Ärzte ohne Grenzen leistet seit Juli 2016 medizinische Hilfe für Flüchtlinge und Migranten in sieben Internierungslagern in Tripolis und Umgebung. Seit Beginn des Projekts wurden mehr als 5.500 Sprechstunden abgehalten (Stand: Januar 2017). Ärzte ohne Grenzen lehnt die unbefristete willkürliche Inhaftierung von Migranten, Flüchtenden und Asylsuchenden in Libyen ab.

* Nach dem Informationsstand vom 21. April 2017 soll das Ibn Sina Krankenhaus Ende April 2017 wieder eröffnen.