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Medizinisches Personal in Ost-Ghuta am Ende seiner Kräfte - Ärzte ohne Grenzen fordert einen sofortigen Waffenstillstand

Ohne einen sofortigen Waffenstillstand wird es nicht länger möglich sein, Kranken und Verwundeten in der belagerten Enklave Ost-Ghuta zu helfen. Die Opferzahlen in dem Gebiet sind unbeschreiblich, die Zahl der durch Bomben beschädigten oder zerstörten medizinischen Einrichtungen hoch. Wegen der Zerstörung und der Angst vor Bombenangriffen können die Straßen nicht mehr zum Transport von Patienten genutzt werden. Das medizinische Personal ist am Ende seiner Kräfte. 

Nach fünf Tagen intensiver Bombardements und Beschuss haben von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Krankenhäuser und Gesundheitszentren mehr als 3.700 Verletzte und mehr als 700 Tote gezählt (von Sonntagabend, 18. Februar, bis Sonntagabend, 25. Februar). Zudem ist davon auszugehen, dass die Zahlen weitaus höher liegen, denn immer weniger Einrichtungen sind imstande, noch Berichte zu verfassen und weiterzugeben. Auch Einrichtungen, die nicht von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, haben Verwundete und Tote zu beklagen. Unter ihnen sind viele Frauen und Kinder. In den neun von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Einrichtungen, die Berichte erstellen konnten, lag am 23. Februar der Anteil von Frauen und Kindern unter den Verletzten bei 58 Prozent und bei den Todesfällen bei 48 Prozent. 

Im gleichen Zeitraum wurden 13 medizinische Einrichtungen, die vollständig oder teilweise von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, von Bomben oder Granaten getroffen. Das medizinische Personal in Ost-Ghuta, das bereits an die Belastungsgrenzen gegangen war, arbeitet nun seit sechs Tagen ohne Pause und ohne Hoffnung, unter den extremen Umständen Patienten angemessen behandeln zu können. In den unterstützten Einrichtungen sind keine Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen anwesend.

 

“Wenn Ärzte und Pflegekräfte am Ende sind, dann auch die Menschlichkeit”

"Ich habe als Krankenschwester in extrem schweren Konflikten gearbeitet. Doch es erschüttert mich zutiefst, wenn ich höre, dass Ärzte und Krankenschwestern in Ost-Ghuta 100 Verletzte haben, aber kein Krankenhaus, weil dieses gerade durch Bomben zerstört worden ist", sagt Meinie Nicolai, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen in Belgien.

"Es gibt ein Maß an Verzweiflung und Erschöpfung, das dadurch entsteht, dass man rund um die Uhr arbeitet, keine Zeit zum Schlafen findet, keine Zeit zum Essen hat, ständig von Bomben umgeben ist und sich einfach inmitten absoluter Not befindet. Das Adrenalin lässt einen eine bestimmte Zeit funktionieren. Doch wenn Ärzte und Pflegekräfte am Ende sind, dann ist auch die Menschlichkeit am Ende. Wir dürfen das niemals zulassen."

Aufrufe, Internationales Humanitäres Recht zu achten, bleiben ungehört

Am dritten Tag der militärischen Offensive forderten Ärzte, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, mehr medizinisches Material. Jetzt, nach sechs Tagen unaufhörlichen Bombardements, sagen sie, dass sie selbst mit neuen Vorräten keine physischen Ressourcen mehr haben, um die Verwundeten weiter behandeln zu können. Sie verlangen daher ein Ende der Bombardements. 

Während der Krieg in Syrien an Intensität zugenommen hat, sind die häufigen Aufrufe von Ärzte ohne Grenzen und anderen, das Internationale Humanitäre Recht (IHL) und die Regeln des Krieges einzuhalten, auf taube Ohren gestoßen. Wir rufen weiter dazu auf und fordern nun zudem: Damit die Mediziner ihre Arbeit machen können, müssen die Bombardierungen durch die syrische Regierung und die bewaffneten Oppositionsgruppen in Ost-Ghuta sofort gestoppt werden. Wir rufen jeden Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen, der militärisch in Syrien involviert ist oder Kriegsparteien unterstützt, dazu auf, seine Mitschuld an der sich abzeichnenden medizinischen Katastrophe anzuerkennen und dringend seinen Einfluss geltend zu machen, um diese Krise zu entschärfen.

Eine humanitäre Intervention muss Ärzte ohne Grenzen zufolge Folgendes beinhalten:

  • Unterbrechung der Bombardierung und des Beschusses, um eine Neuorganisation der medizinischen Versorgung zu ermöglichen

  • Erlaubnis zur medizinischen Evakuierung der kritischsten Patienten

  • Erlaubnis für unabhängige humanitäre medizinische Organisationen, das Gebiet zu betreten und praktische Hilfe zu leisten

  • Massiver Nachschub von lebensrettenden Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern

  • Vor, während und nach jeder Kampfpause ist sicherzustellen, dass zivile Bereiche auf beiden Seiten, einschließlich der medizinischen Einrichtungen, nicht getroffen werden

Zu Beginn der jüngsten Eskalation in Ost-Ghuta stellte Ärzte ohne Grenzen zehn Gesundheitseinrichtungen ein umfassendes Paket regelmäßiger Unterstützung zur Verfügung und half zunehmend anderen Einrichtungen mit medizinischen Notfallspenden. Selbst Einrichtungen, die jahrelang keine Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen angefragt hatten, hatten um Hilfe gebeten. Ärzte ohne Grenzen spendete daher den meisten Krankenhäusern und Kliniken aus den rasch schwindenden Beständen der Organisation - dabei fehlte einiges wichtiges grundlegendes Material für Operationen, das in Ost-Ghuta nicht besorgt werden kann. In den unterstützten Einrichtungen sind keine Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen anwesend.

Im Norden Syriens betreibt Ärzte ohne Grenzen fünf Gesundheitseinrichtungen und drei mobile Klinikteams und hat Partnerschaften mit fünf Einrichtungen. Aus der Ferne unterstützt Ärzte ohne Grenzen landesweit etwa 50 Gesundheitseinrichtungen in Regionen, in denen Mitarbeiter nicht direkt vor Ort sein können. Die Organisation ist nicht in Gebieten tätig, die vom Islamischen Staat kontrolliert werden, da es von dessen Führung keine Zusicherungen im Hinblick auf Sicherheit und Unparteilichkeit gegeben hat. Ärzte ohne Grenzen kann auch nicht in von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeiten, da diese der Organisation bislang den Zugang verwehrt. Um die Unabhängigkeit zu gewährleisten, nimmt Ärzte ohne Grenzen keine staatliche Unterstützung für die Arbeit in Syrien an.