Bangladesch: Wir dürfen die Menschen nicht vergessen.
Trotz der frühen Morgenstunden ist es heiß und schwül in unserer Klinik. Die Luftfeuchtigkeit beträgt meist über 90 Prozent. Unsere Notaufnahme ist an diesem Dienstag bereits überfüllt, als ein Vater mit seinem Sohn im Arm hereineilt. Dem Jungen geht es sehr schlecht. Sein Vater Mohammed Faisel berichtet uns, dass sein Sohn Samin seit Tagen Husten und Fieber hat. In dieser Nacht bekam der Zweijährige nicht mehr richtig Luft. Umgehend kümmern wir uns um Samin.
Trubel in der Notaufnahme
Samin wirkt erschöpft und müde. Sein Brustkorb hebt und senkt sich sehr schnell. Seine Bronchien sind verengt, er hat eine Lungenentzündung. Die Familie von Samin lebt in einer einfachen Wohnstätte aus Bambus und Planen wie rund eine Million weiterer Menschen hier im Camp. Schutz vor Regen und Nässe gibt es kaum.
Schwere Atemwegsinfekte sind keine Seltenheit in unserer Notaufnahme.
Samin braucht ein Antibiotikum, und wir zeigen dem Vater, wie er dem Jungen eine Maske zum Inhalieren aufsetzt. Während Samin auf Papas Schoß mithilfe der Maske tief atmet, um die Bronchien wieder freizubekommen, müssen wir uns um die nächsten Patient*innen kümmern. Trotz des Trubels schauen wir regelmäßig nach dem Jungen und hoffen, dass die Therapie anschlägt.
Gesundheit ist ein Menschenrecht
Wir, das sind Sayeed Jahangir und Daniel Kharazipour. Ich, Sayeed, komme aus Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, und bin seit 2020 dabei. Meine Frau ist auch Ärztin und arbeitet ebenfalls für Ärzte ohne Grenzen. Wir haben einen zwei Jahre alten Sohn. Ich, Daniel, arbeite normalerweise in Hannover an der Uniklinik im Zentrum für Innere Medizin. Dies ist mein erster Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen.
Es war immer mein Wunsch, mich für Menschen in humanitären Krisen einzusetzen. Unsere Organisation ist unabhängig, und wir behandeln jeden Menschen gleich, ungeachtet seiner Herkunft oder seines Status. Das ist mir unheimlich wichtig.
60.000 Menschen pro Quadratkilometer
Samin geht es derweil immer besser. Er kann freier atmen, und es huscht wieder ein Lächeln über sein Gesicht. Bald können wir ihn entlassen. Samin ist eines von vielen Kindern in den Camps hier, die zusammengefasst oft als größtes und am dichtesten besiedeltes Camp der Welt bezeichnet werden. Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen sind Kinder.
Vielleicht erinnern Sie sich an die Bilder in den Medien, als vor rund sechs Jahren Hunderttausende Rohingya über den Grenzfluss nach Bangladesch flohen? Mit massiver Gewalt wurden sie aus Myanmar vertrieben. Die Menschen in Bangladesch organisierten die Aufnahme ihrer Nachbarn. Doch aus einer vorübergehenden Lösung ist eine langwierige Krise geworden, ohne Lösung in Sicht.
Gefahr von Bränden und Erdrutschen
Obwohl die Camps mittlerweile über bessere Straßen, mehr Latrinen und Trinkwasser verfügen als zu Beginn, leben die Geflüchteten immer noch in einfachen und überfüllten Wohnstätten. Die Behausungen bestehen größtenteils aus Bambusholz. Kommt es zu Bränden, breiten sich die Flammen rasend schnell aus. Es gab bereits mehrere verheerende Feuer im Camp, bei denen Menschen verletzt wurden und sogar starben. Auch eine unserer Kliniken brannte nieder und musste neu aufgebaut werden.
Der Bau dauerhafter Strukturen ist nicht erlaubt. Die Menschen haben nur offene Feuerstellen zum Kochen.
Zudem wird das hügelige, sumpfige Gebiet bei Extremwetterereignissen schnell zur Gefahr. Bei schweren Regenfällen kommt es zu Erdrutschen, auch starke Winde beschädigen oder zerstören häufig die aus Bambus und Plastikplanen gebauten Unterkünfte. Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einem Zelt, das auf schlammigem Boden nahe eines Abgrundes steht, sodass es ständig abzurutschen droht.
Ohne Rechtsstatus – ohne Perspektive
Das ist die Realität vieler Menschen hier. Doch an einen anderen Ort umziehen, können die Rohingya nicht. Ihnen wurde die Staatszugehörigkeit genommen. Sie dürfen aufgrund ihres fehlenden Rechtsstatus weder arbeiten noch die Camps verlassen.
Selbst bei Wetterwarnungen ist es nicht möglich, die Menschen in sicherere Gebiete zu bringen, wie es beim Zyklon Mocha im Mai dieses Jahres der Fall war. Die meisten unserer Krankenhäuser mussten für zwei Tage schließen, da sie einzustürzen drohten.
Ausbrüche von Krätze und Dengue-Fieber
Diese prekären Lebensbedingungen führen zu psychischen und körperlichen Krankheiten – wie die Lungenentzündung von Samin zeigt. Dieses Jahr hat sich zudem die Zahl der Patient*innen mit Dengue-Fieber im Vergleich zu den Vorjahren vervielfacht. Es ist der größte Dengue-Ausbruch, seitdem in Bangladesch diese Daten erhoben werden. Die Krankheit wird durch Mückenstiche übertragen. Die immer wärmeren Temperaturen und unregelmäßigen Regenfälle infolge der Klimakrise tragen dazu bei, dass die Mücken immer bessere Brutbedingungen vorfinden. Bei für sie günstigeren Temperaturen können die Mücken länger als üblich aktiv sein, schneller verdauen und somit schneller wieder stechen und auch ihr Vermehrungszyklus läuft schneller ab. Die Menschen im Camp können sich kaum vor Stichen schützen.
Wir sehen täglich Neugeborene, die sich bereits in den ersten Tagen ihres Lebens mit Krätze infizieren. Es ist so furchtbar, wenn ein Leben bereits so früh mit Krankheit beginnt.
Diese Entwicklung hat unsere Kapazitäten in der Notaufnahme sehr beansprucht. Als wäre das alles nicht genug, leiden etwa vierzig Prozent der in den Camps lebenden Menschen an der parasitären Hautkrankheit Krätze, was ebenfalls eine Folge der schwierigen Lebensbedingungen ist. Krätze verursacht starken Juckreiz, der die Erkrankten teils über Wochen vom Schlafen abhält. Viele Patient*innen klagen über seelische Belastungen in der Folge. Dies ist der größte Krätze-Ausbruch der Welt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO plant derzeit eine groß angelegte medikamentöse Behandlung gegen Krätze. Wir werden uns an der Umsetzung beteiligen.
Gekürzte Hilfen
In einer Zeit mit zahlreichen humanitären Krisen – von der Klimakrise über die weltweite Inflation bis zu den Kriegen in der Ukraine und im Jemen – wurden die internationalen Hilfen in manchen Regionen massiv gekürzt. Davon sind auch die Rohingya in Bangladesch betroffen. Im März 2023 wurden die Lebensmittelrationen des Welternährungsprogramms von umgerechnet zwölf US-Dollar pro Person und Monat auf zehn US-Dollar und im Juni auf nur noch acht US-Dollar gekürzt. Der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung für fast eine Million staatenlose Menschen hängt von internationaler, humanitärer Hilfe ab.
Wir dürfen die Menschen hier nicht vergessen.