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Haiti: Helfen inmitten von Chaos und Gewalt

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Portraitfoto von Amadeus von der Oelsnitz

Amadeus von der Oelsnitz

Ich bin Krankenpfleger aus Hamburg und arbeite seit 2002 mit Ärzte ohne Grenzen. Unter anderem war ich im Tschad, in Niger und in der Zentralafrikanischen Republik im Einsatz.

Port-au-Prince in den frühen Morgenstunden. Ich spüre die Anspannung in unserem Geländewagen – wie immer, wenn wir uns einer Straßensperre nähern. Mein Team und ich verhalten uns ruhig. Eine wichtige Grundregel, die alle Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen kennen. Unser Fahrer verlangsamt das Tempo. Hier am Übergang von einem Stadtviertel zum nächsten ändern sich die Machtverhältnisse in Haitis Hauptstadt. Hinter der Sperre hat eine andere bewaffnete Gruppe das Sagen. 

Ein paar junge Männer stehen hinter einer Barrikade aus Autoreifen, Holzteilen und Steinen. Sie tragen Schnellfeuergewehre, heben ihre Arme, um uns zu signalisieren, dass wir anhalten sollen. Die Männer kontrollieren, wer in ihr Gebiet kommen möchte. Und warum. 

Ich bin erleichtert, als wir weiterfahren 

Als sie unser Logo auf der Tür entdecken, lächeln sie. Denn sie wissen, dass wir auf dem Weg zu unserer mobilen Sprechstunde sind. Sie freuen sich und grüßen uns herzlich: „Hey, MSF!“, rufen sie. Das ist die Abkürzung von Médecins Sans Frontières, unseres Namens auf Französisch. „Merci, bon boulot!“, ruft einer von ihnen – Danke, gute Arbeit! 

Ich bin erleichtert, als wir weiterfahren. Es funktioniert, denke ich. Denn genau das – diese Freude über uns und die Akzeptanz unserer Arbeit – das sind wesentliche Teile unseres Sicherheitskonzeptes. 

Immer wieder haben mich Menschen, die an einer Mitarbeit bei uns interessiert sind, bei Vorträgen gefragt: „Wie könnt ihr eigentlich in umkämpften Krisengebieten arbeiten? Wie schützt ihr euch?“ 

Um es einmal ganz klar zu sagen: Die Sicherheit unseres Personals und der Patient*innen, die in unsere Sprechstunden kommen, hat für uns immer oberste Priorität. Wir halten die Gefahren für sie so gering wie möglich. 

Das größte Risiko für Unfälle und Überfälle besteht für unsere Teams, wenn wir uns von A nach B bewegen – während des Arbeitsweges zur Klinik, den wir in Haiti immer im Konvoi mit mehreren unserer Geländewagen zurücklegten. Wie können wir der Gefahr auf diesen Wegen vorbeugen? Das Wichtigste ist die Kommunikation mit allen Machthabenden. In Haiti bedeutet dies, dass wir uns mit allen bewaffneten Gruppen regelmäßig treffen. 

Morgen sind wir bei euren Gegner*innen 

In der Regel sprechen unsere Projektkoordinator*innen mit den Gruppenanführern. Sie erklären ihnen, wann wir ihr Gebiet besuchen möchten und wo wir eine medizinische Sprechstunde anbieten wollen. Wir informieren sie darüber, dass es unsere Aufgabe als humanitäre Helfer*innen ist, sie und die Bevölkerung in ihrem Viertel zu behandeln. Dass wir aber genauso am Folgetag bei ihren Gegner*innen im benachbarten Viertel sein werden, um dort eine Sprechstunde abzuhalten. 

Wenn die Gruppen dieses Prinzip der Neutralität verstanden und akzeptiert haben, können wir gut arbeiten.  

Oft fragen die Machthaber uns, warum wir Hilfe leisten – wer unsere Geldgeber*innen sind. Dann erklären wir, dass wir von vielen Privatpersonen weltweit Spenden erhalten, die einfach nur helfen wollen. Und dass keine politischen oder wirtschaftlichen Interessen hinter unserer Arbeit stehen. Dies ist ein äußerst wichtiger Aspekt der Akzeptanz und des Schutzes. Ein Dank gebührt also allen, die uns mit Spenden unterstützen. 

Akzeptanz ist die Basis 

Wir sind schon seit mehr als 30 Jahren in Haiti aktiv. Die Menschen im Land kennen uns und sie vertrauen uns. Ärzte ohne Grenzen leistete unter anderem lebensrettende Nothilfe nach dem Erdbeben im Jahr 2010 und während der Folgejahre, als eine verheerende Cholera-Epidemie ausbrach. In meinen Gesprächen mit den Menschen vor Ort hörte ich immer wieder, dass sie persönlich Hilfe von uns erhalten hatten oder Familienmitglieder durch unsere Teams gerettet wurden. So etwas verbindet. 

Denn auch Machthaber und ihre Angehörigen brauchen medizinische Versorgung. Das habe ich in Haiti aus nächster Nähe erlebt: Eines Tages kamen mehrere Männer mit ihren Pistolen im Hosenbund in unsere Sprechstunde. Ich ging auf sie zu und bat sie, ihre Waffen draußen zu lassen. Auch dies ist eine Grundregel zu unserer Sicherheit: In unseren Kliniken sind keine Waffen erlaubt. Die Männer waren zunächst ungehalten und wollten unmittelbar an die Reihe kommen. Ich erklärte ihnen, dass es unsere Regeln vorsehen, allein nach der medizinischen Notwendigkeit zu entscheiden, wer als nächstes behandelt wird. In dem Raum warteten unter anderem auch Mütter mit schwer kranken Kindern. 

Die Schwächsten im Blick 

Mir war bewusst, dass ich nun selbstsicher auftreten musste. Die chronifizierte Schusswunde eines der Männer war sicherlich unangenehm, aber nicht zeitkritisch. Es gelang mir, die Situation zu beruhigen – und auch der Mann wurde später von uns versorgt wie auch alle anderen Patient*innen. 

Grundsätzlich ist es der Anspruch von Ärzte ohne Grenzen, in Krisengebieten vor allem für die verletzlichsten Gruppen da zu sein. In Haiti behandelten wir täglich bis zu 100 Patient*innen in unseren mobilen Sprechstunden. Viele unserer Patient*innen sind schwangere Frauen, ältere Menschen mit Bluthochdruck und Diabetes, Kinder mit schweren Atemwegsinfekten und Durchfällen, einige waren infolge anhaltender Infekte akut mangelernährt. 

Die meisten dieser Erkrankungen sind auf die Lebensbedingungen zurückzuführen. Tausende leben in Port-au-Prince in Vertriebenenlagern. Dort gibt es keinen Strom, keine Waschgelegenheiten, kein fließendes Wasser, viele schlafen nur auf Pappkartons. Auch Hautkrankheiten wie Krätze sind weitverbreitet. Wir verteilen immer wieder auch Nahrungsmittel in den Lagern, stellen Trinkwasser bereit und bauen Latrinen auf. 

Sandsäcke zum Schutz 

Einige unserer mobilen Sprechstunden bieten wir direkt in den Vertriebenenlagern an, andere in leerstehenden Lagerhallen oder ehemaligen Schulen. Einmal pro Woche besuchten wir ein verlassenes Gesundheitszentrum und nahmen es praktisch kurzzeitig in Betrieb. Das Gebäude lag recht nahe an einer Grenze zwischen zwei verfeindeten Vierteln, weshalb es in der Gegend immer wieder zu Schusswechseln kam. Im ersten Stockwerk hatten wir deshalb die Fenster und Balkone mit Sandsäcken gesichert, um vor Querschlägern geschützt zu sein. 

Das ist auch auf der Straße immer ein Risiko, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort ist – und in Gefechte gerät, die eigentlich nichts mit einem zu tun haben. Deshalb minimieren wir dieses Risiko, indem wir niemals in der Dunkelheit unterwegs sind. Denn Schusswechsel häufen sich nachts. Zudem erhöht eine erschwerte Sicht das Risiko für unsere Fahrer*innen, sie erleichtert Überfälle, und unser Logo am Auto ist bei Nacht schwerer zu erkennen. 

Es gab auch seltene Tage, an denen wir unsere Sprechstunden nicht abhalten konnten. Wir hatten dann zuvor Warnungen von den bewaffneten Gruppen oder aus der Bevölkerung erhalten, dass es zu Kämpfen in unserem Einsatzgebiet kommen könnte. 

Die Gefahr von Entführungen 

In Haiti besteht zudem ein stark erhöhtes Risiko für Entführungen. Einige kriminelle Banden verdienen ihr Geld durch Kidnappings. Da wir in stetigem Kontakt mit den bewaffneten Gruppen stehen, können wir solchen Situationen gut vorbeugen. Alle Gruppen wissen, dass Ärzte ohne Grenzen kein Lösegeld zahlt. Und auch hier ist der beste Schutz, dass unsere medizinische Hilfe für alle wichtig ist und niemand uns schaden möchte. Sollte es dennoch zu einer Entführung kommen, setzen wir umgehend ein Team ein, das sich nur darum kümmert, dass die betroffenen Kolleg*innen so schnell wie möglich freigelassen werden. Die Teams haben spezielle Trainings für diese Fälle erhalten. 

Das Risiko einer Entführung besteht insbesondere für unsere haitianischen Mitarbeiter*innen. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause fahren, haben sie nicht mehr den Schutz der Organisation. Leider haben wir für diese Situationen keine gute Lösung, und es ärgert mich sehr, dass sich hier im Kleinen zeigt, wie ungerecht die Welt oftmals ist. 

Wir bewegten uns generell so wenig wie nötig in Haiti. Das bedeutete nicht nur für mich, dass ich viel Zeit in unserer Unterkunft, die halb Wohnung und halb Büro war, verbracht habe. Dinge wie Spaziergänge, Freund*innen treffen, Joggen gehen oder selbst einkaufen im Supermarkt erlebe ich nach solch einem Einsatz immer viel intensiver. 

Mir wird dann immer bewusst, wie viel es bedeutet, dass wir in Deutschland in Frieden leben. Ich kann mir nicht aussuchen, wo ich geboren werde. Umso wichtiger finde ich es, dass wir auch hinschauen, was andernorts passiert und dass wir uns engagieren. 

Meinen Einsatz in Haiti werde ich nicht so schnell wieder vergessen.