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Wenn die Sterbenden die Lebenden trösten

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Khairil Musa

Ich bin Intensivmediziner aus Sydney und arbeite seit 2020 mit Ärzte ohne Grenzen. Bisher war ich im Jemen und Irak im Einsatz.

Im Auge des Sturms

Ich war kein Neuling in Sachen Leiden und Tod, da ich bei meiner regulären Arbeit als Intensivmediziner täglich damit konfrontiert war. Aber was ich auf dem Höhepunkt der ersten Covid-19-Welle im Jemen erlebte, war ein unaufhaltsamer Strom an ankommenden Patient*innen. 

Ich arbeitete in einem Covid-19-Behandlungszentrum von Ärzte ohne Grenzen. So etwas wie die tägliche Visite hier hatte ich noch nie zuvor erlebt: Überall die Geräusche von erstickenden und vor Schmerzen stöhnenden Patient*innen. Dazu das Stimmengewirr der jemenitischen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, die nach Sauerstoff riefen. 

In Aden im Süden des Landes befanden wir uns im Auge des Sturms, das Covid-19-Behandlungszentrum platzte aus allen Nähten.  

Die Angst vor dem Virus hatte die Stadt Aden erfasst, und andere Krankenhäuser weigerten sich, Patient*innen mit Atemwegssymptomen zu behandeln.

Da sie nirgendwo anders hinkonnten, nahmen viele stundenlange Fahrten auf sich, um zu unserer Einrichtung zu gelangen. Wir verfügten über 32 Betten in unserer stationären Abteilung und eine Intensivstation mit sieben Betten, die bereits wenige Tage nach der Eröffnung voll belegt war. 

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Sauerstoffflaschen im Jemen
Ohne Zugang zu flüssigem Sauerstoff sind unsere Teams auf sperrige und schwere Sauerstoffflaschen angewiesen. Patient*innen mit einem mittelschweren Covid-19-Verlauf sind täglich auf sechs solcher Flaschen angewiesen.

Geschlossene Grenzen und schwindende Vorräte

Unser Team versuchte verzweifelt, lebenswichtige Medikamente und Ausrüstungen zu beschaffen, was angesichts des Flugverbots und der Schließung vieler internationaler Grenzen fast unmöglich war. Wir hatten keinen Zugang zu flüssigem Sauerstoff und mussten für die Behandlung der Patienten sperrige Sauerstoffflaschen verwenden, mehr als 250 pro Tag.

Ohne Zugang zu flüssigem Sauerstoff sind unsere Teams auf sperrige und schwere Sauerstoffflaschen angewiesen. Patient*innen mit einem mittelschweren Covid-19-Verlauf sind täglich auf sechs solcher Flaschen angewiesen.

In einem Land, das bereits durch Krieg, ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem und weit verbreitete Armut zerrissen ist, kam uns die Herausforderung übermenschlich vor. Ohne ausgefeilte Technologie oder Therapien mussten wir uns auf das Wesentliche beschränken: unser klinisches Urteilsvermögen und die wenigen Überwachungsgeräte, die wir hatten. 

Entscheidungen über Leben und Tod

Jeden Tag mussten kritische Entscheidungen getroffen werden. Wer von den vielen Patient*innen sollte auf die Intensivstation verlegt werden? Die meisten waren so schwer erkrankt, dass sie ein Beatmungsgerät gebraucht hätten. Aber wenn davon nur noch wenige übrig sind, wird die Entscheidung zur Qual. 

Ich wusste, dass auf der Intensivstation in meiner Heimat jede*r Patient*in an ein Beatmungsgerät angeschlossen gewesen wäre und nicht in einem umfunktionierten Gemeindesaal verzweifelt ums Überleben gekämpft hätte. Aber diese Überlegungen waren nicht hilfreich, denn schlussendlich musste trotzdem eine Entscheidung getroffen werden. 

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Medizinisches Personal bringt einen Patienten, der an Covid-19 erkrankt ist, ins Krankenhaus in Aden, Jemen
Das Equipment im Jemen reicht längst nicht, um alle an Covid-19 erkrankten Patient*innen zu behandeln. Für die Mediziner*innen bedeutet das, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen.
© Jacob Burns/MSF

Mit jedem Tag, der verging, stieg die Zahl der Toten. Diejenigen, die wir nicht aufnehmen konnten, starben in ihren Häusern und die Stadt meldete einen Anstieg der Beerdigungen auf das Achtfache.

Trotz der kontinuierlich steigenden Zahl an Patient*innen hinterließen einige einen bleibenden Eindruck. 

Der Zustand einer Frau in den Siebzigern verschlechterte sich stetig. Nachdem ich ihr die Sauerstoffmaske wieder aufgesetzt hatte und mich zum Gehen wandte, legte sie mir ihre Hand auf die Schulter und lächelte strahlend – als ob sie gewusst hat, dass ihre Zeit gekommen war. Ihr Blick sagte: Es ist in Ordnung. In diesem Moment fühlte ich mich so demütig, dass ich getröstet wurde, obwohl ich ihr keinen Trost spenden konnte. 

Eine tiefe Müdigkeit und große Trauer

Wie meine Kolleg*innen war ich von den langen Arbeitsstunden erschöpft, aber selbst der Schlaf konnte meinen leeren Tank nicht wieder auffüllen. Eine tiefe Müdigkeit machte sich in mir breit. 

Ich saß oft allein in meinem Zimmer und hatte Tränen in den Augen. In diesen Momenten trauerte ich um die verlorenen Leben und um die, die noch kommen werden. 

Hoffnung, Liebe und kleine Siege

Zum Glück gab es zwischen den Kämpfen auch Momente des Triumphs: Ein Patient, ein Herr in den Fünfzigern, widerlegte unsere Einschätzungen und erholte sich stetig, bis er entlassen werden konnte. Im Laufe der Wochen begannen sich die Dinge zum Besseren zu wenden. Weitere Verstärkungen aus der Zentrale brachten mehr Fachwissen, unsere Teams gewannen an Erfahrung und unser Zugang zu Vorräten verbesserte sich.  

Ich hatte das Privileg, mit vielen jemenitischen Ärzten, Krankenpfleger*innen, Träger*innen zusammenzuarbeiten. Ich war immer wieder beeindruckt von ihrer hartnäckigen Weigerung, den Status quo zu akzeptieren, von ihrem Kampf, die Dinge jeden Tag zu verbessern und von der Hoffnung und Liebe, die viele von ihnen für ihre Mitmenschen und ihr Land zum Ausdruck brachten.


Ich habe während meiner Zeit im Jemen viele Lektionen gelernt. Ich weiß jetzt, dass der Wert von Arbeit nicht nur darin besteht, dass man weiß, wie man ein Beatmungsgerät benutzt. Der Wert liegt auch darin, dass man präsent ist und Zeugnis ablegt. Ich habe gelernt, dass die Zeit, die man damit verbringt, sich um andere zu kümmern, nie vergeudet ist, und dass das kleinste Körnchen Hoffnung ausreicht, um einen durch die dunkelsten Tage zu tragen.