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Niger: Was, wenn Mangelernährung nicht das größte Problem ist?

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Lena Pflüger, Niger 2022

Lena Pflüger

Ich bin Redakteurin im Deutschen Büro von Ärzte ohne Grenzen.

Ich bin nervös - und das, wo doch dieser Teil meiner Arbeit für mich der schönste ist: Als Redakteurin von Ärzte ohne Grenzen darf ich Interviews führen, Menschen begegnen, zuhören und fotografieren. Jetzt bin ich im Niger, um von hier zu berichten.

Die Intensivstation für mangelernährte Kinder hier im Krankenhaus in Magaria im Süden des Niger ist groß. Die Kinder sind mit ihren zwei bis fünf Jahren noch zu jung, um selbst etwas erzählen zu können und meist auch noch zu krank. Unser Übersetzer Bashir Mallan Hamza und ich sprechen deshalb mit den Müttern der kleinen Patient*innen. Ohne Bashir wäre das hier nicht möglich - und unsere Zusammenarbeit ist herrlich. Er versteht sofort, worauf es in der Interviewführung ankommt.

Einfach machen!

450 Betten für akut mangelernährte Kinder hält das Krankenhaus insgesamt bereit. Das Einzugsgebiet ist riesig und reicht weit über die Grenze des Niger bis ins nördliche Nigeria. Hier auf der Intensivstation stehen etwa 30 Betten. Ärzte ohne Grenzen unterstützt das Krankenhaus seit rund 15 Jahren mit einem Ernährungsprogramm und in der Pädiatrie - aktuell bereiten die Teams alles darauf vor, einen Teil der Zuständigkeiten und Aktivitäten schrittweise an die lokale Gesundheitsbehörde zu übergeben.

Ich verbanne meine Nervosität in eine der hinteren Ecken und erinnere mich selbst: einfach machen!

Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?

Wir sprechen eine der Frauen an. Ihre Mimik ist zunächst bewegungslos - ich bin nicht sicher, ob sie mit uns sprechen will, Bashir stellt erste Fragen und erklärt auf Fulfulde, einer der lokalen Sprachen der Region, was wir machen und wofür.

Da gleitet ein Lächeln über ihr Gesicht und ihre Augen mustern mich interessiert. „Woddi“ – in Ordnung. Es ist ok für sie. Wir zwängen uns zwischen die Betten und kommen ins Gespräch. Ich will wissen, woher sie kommt, wie es dem Kind geht und wie die Situation zuhause insgesamt ist. Spielt die Klimakrise hier eine Rolle, wie sehr belastet sie die Gewalt in der Region oder sind ihre täglichen Herausforderungen doch ganz andere?

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Kanpe Alhassan mit ihrer Enkeltochter Latifa Lawali.
Kanpe Alhassan (41) und ihre Enkeltochter Latifa Lawali (2).
© Lena Pflüger/MSF

 

Kanpe Alhassan ist mit ihrer Enkeltochter hier. Die zweijährige Latifa Lawali ist schon seit fast einem Monat sehr krank. Jetzt sind die beiden seit zwei Tagen auf der Intensivstation. Latifa erhält therapeutische Spezialnahrung über eine Magensonde und Kanpe kümmert sich um sie. “Meine Tochter ist hochschwanger und konnte sie nicht mehr stillen”, sagt sie. “Da fing es dann mit der Mangelernährung an”, erzählt Kanpe. “Ihr Vater ist ins Ausland gegangen, um Arbeit zu finden und schickt regelmäßig Geld nach Hause, aber die Lebensmittel, die meine Tochter damit kaufen kann, reichen nicht für alle.” 

Gesundheitskrise an der Tagesordnung

Mangelernährung ist hier ein wiederkehrendes Phänomen. Der Projektkoordinator Dr. Roger hat uns die Ursachen aufgeschlüsselt. Wie meist, ist es komplex: zunehmende Trockenheit, die Landwirtschaft schwierig macht, Starkregen, der Ernten vernichtet, die Gewalt in der Region, Spekulationen auf dem Nahrungsmittelmarkt. Aber auch die Tatsache, dass die Fläche überhaupt fruchtbaren Landes aufgrund der Ausbreitung der Wüste und des Bevölkerungswachstums immer mehr Menschen ernähren muss. Darüber hinaus spielen auch der kulturelle Aspekte ein Rolle, wie dass Eier, deren Nährstoffe Mangelernährung bei Kindern gut vorbeugen könnten, dem Familienoberhaupt vorbehalten sind oder dass internationale Hilfsmittel in Richtung vermeintlich akuterer Krisen geleitet werden. 

Bald geht es nach Hause

Nach der Mittagspause wechseln wir die Station und besuchen die Patient*innen in Phase T. “T steht für transition (Übergang)“, erklärt mir Dr. Joel Tiove, der in Magaria unsere Pädiatrie leitet. „Den Kindern hier geht es schon besser, sie bekommen bereits die zweite Stufe der Spezialmilch und die Erdnusspaste Plumpy Nut.” Es sei wichtig, dass sie sich daran gewöhnen, denn sie werden ihre Behandlung bald ambulant in einem Gesundheitsposten näher an ihrem Zuhause fortsetzen und dort haben sie meist nur die Paste.  

Auch hier sind die meisten Mütter fulani. Bashir erzählt mir, dass man dieser Volksgruppe nachsagt, sehr verschlossen zu sein. Wir machen aber eine ganz andere Erfahrung: die Frauen sind offen und interessiert. Und dadurch, dass es den Kindern hier schon sichtlich besser geht, ist die Stimmung auf dieser Station insgesamt gelöster.

Wenn der Regen zu spät kommt

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Nafisa Mutari mit ihrem Sohn Amir Osuman
Amir Osuman (13 Monate) und seine Mutter Nafisa Mutari (36).
© Lena Pflüger/MSF

"Er hatte sehr schlimmen Durchfall – alles, was er aß, ging einfach durch ihn hindurch”, erzählt uns Nafisa Mutari (36). Die Mutter von fünf Kindern brachte ihren Jüngsten zur Behandlung nach Magaria ins Krankenhaus. Amir Osuman verbrachte zwei Tage auf der Intensivstation, wo er eine Bluttransfusion und therapeutische Spezialnahrung erhielt. Jetzt geht es ihm besser und Nafisa hofft, bald mit ihm nach Hause gehen zu können.

"Wir leben in Angowal Majé, einem Dorf etwa 15 km von Magaria entfernt", sagt sie. Sie erzählt uns, dass sie Bauern sind und normalerweise von ihrem Land leben können. "Aber nicht jedes Jahr - wenn der Regen zu spät kommt, fällt die Ernte klein aus. Dann haben wir Mühe, in die nächste Saison zu kommen. Dieses Jahr kam der Regen sehr spät und es hat nicht viel geregnet."

Begegnungen, die mich noch lange begleiten

Am Ende des Tages sind wir müde, aber beim Aufbereiten des Materials am Abend auch sehr zufrieden – es war redaktionell ein erfolgreicher Tag und auch menschlich ungemein bereichernd. An Tagen wie diesen spüre ich, warum ich diesen Job so gerne mache und warum die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen  so wichtig ist.

Ich denke noch lange über das nach, was mir die Frauen heute erzählt haben – auf meine Frage, warum ihr Kind hier ist, nannte kaum eine als erstes Mangelernährung. Vordergründig wichtig waren für die meisten die anderen Erkrankungen wie Malaria, Lungenentzündung oder akuter Durchfall. 

Mangelernährung geht oft mit anderen Erkrankungen einher, weil das Immunsystem der Kinder sehr geschwächt ist, erklären mir die Ärzt*innen. Letztlich ist die Mangelernährung selbst aber schon ein ernstzunehmender lebensbedrohlicher Zustand. Wie muss es um die Gesundheits- und Nahrungsmittelsituation hier insgesamt bestellt sein, dass Mangelernährung fast schon zum Alltag gehört und für Eltern allein kein Grund ein Krankenhaus aufzusuchen? 

Mir wird immer mehr klar, dass die „Gesundheitskrise Mangelernährung“ hier im Niger vielschichtig ist und entsprechend umfassende Lösungsansätze erfordert, in denen nicht allein humanitäre Akteure Schlüsselrollen einnehmen müssen. 

"Es geht um sein Leben"

Edriss Haruna ist schwer mangelernährt und sein kleiner Körper wird von hohem Fieber geschüttelt. - Wie ihm geht es aktuell mehr als 232 Millionen Kindern weltweit. Erfahren Sie hier mehr darüber, wie wir mangelernährten Kindern im Niger helfen.