Menschen im Nordosten Syriens: Ein Leben im Schwebezustand
Es gibt diese Einsätze, die einen nicht loslassen. An manche erinnert man sich aufgrund einer bestimmten Person oder eines Erlebnisses. An andere, weil sie ein bestimmtes Gefühl hinterlassen – eines, das schwer in Worte zu fassen ist. So ging es mir mit Nordostsyrien.
Eingekeilt zwischen der Türkei und dem Irak befindet sich die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien mit ihren mehr als drei Millionen Menschen in einer komplexen geopolitischen Gemengelage.
Camp Al-Hol: Ein Gefängnis unter freiem Himmel für Tausende
Hier, nahe der syrisch-irakischen Grenze liegt am Rand der Stadt Al-Hol ein riesiges Vertriebenencamp, das man auch als Freiluftgefängnis bezeichnen könnte. Mehr als 43.000 Menschen leben hinter bewachten Zäunen in Zelten. Sie stecken hier fest.
Bei Temperaturen von über 40 Grad Celsius frage ich mich, wie Menschen diese Hitze und den Staub in der Zeltstadt über Jahre ertragen – ohne Aussicht auf ein Ende. Ich hatte vorher viel über das Camp von Al-Hol gelesen. Wie unbarmherzig das Leben hier ist, begriff ich so richtig erst vor Ort.
Ursprünglich war das Camp zur vorübergehenden Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak angelegt worden. Im Dezember 2018 wurden dann auch die Menschen aus den vom Islamischen Staat (IS) kontrollierten Gebieten hierhergebracht. Nach und nach entwickelte sich das Camp zu einem Gefängnis unter freiem Himmel – unsicher und schrecklich unhygienisch.
Die Menschen leben hier in einer Art Schwebezustand. Nur ein kleiner Teil von ihnen wurde in sein jeweiliges Herkunftsland zurückgeschickt, darunter Frankreich, Kanada, Australien, Syrien und Irak.
Eine Kindheit ohne Perspektive
Als ich durch das Camp ging, fielen mir die vielen Kinder auf: Zwei Drittel derer, die hier leben, sind minderjährig. Jede zweite Person ist unter zwölf Jahre alt. Man sieht Kinder, die im Dreck spielen. Ihre Spielzeuge haben sie aus Müll gebastelt. Reguläre Bildungsangebote oder soziale Aktivitäten gibt es für sie nicht. Was für eine Zukunft erwartet diese Kinder?
Wir dokumentieren seit Jahren die unsicheren Verhältnisse in Al-Hol, aber es scheint sich nichts zu ändern. Kurz nach meinem Besuch im Camp machten die Sicherheitskräfte wieder eine Razzia. Sie schlitzen Zelte auf, griffen Menschen körperlich an und trennten Kinder von ihren Müttern. Routinemäßig werden Jungen im Alter von zwölf Jahren und älter abgeholt und in Haftzentren außerhalb des Camps gebracht, wo sie keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Mütter warten verzweifelt auf Informationen über den Verbleib ihrer Kinder.
Auch außerhalb von Al-Hol ist die Lage dramatisch
Die Lücken in der Versorgung sind überall sichtbar. Nach allem, was die Menschen in den Jahrzehnten des Konflikts erlebt haben, trifft sie die syrische Wirtschaftskrise jetzt zusätzlich.
Hier in der autonomen Region stellen wir für Tausende Menschen eine medizinische Grundversorgung bereit. Unsere Teams kümmern sich um mangelernährte Kinder, behandeln Menschen mit Diabetes und Herzkrankheiten und versuchen, Ausbrüche von Cholera und Masern in Schach zu halten. Sie sind für jene da, die keine Klinik erreichen können.
Vor 2011 hatte Syrien ein gut ausgebautes Gesundheitssystem. Aber als ich jetzt mit den Menschen im Nordosten sprach, hatte ich den Eindruck, dass sie sich in dieser kleinen Ecke des Landes gefangen fühlten: unfähig, eine Zukunft jenseits des Alltäglichen zu sehen.
Drohende Epidemien im Nordosten Syriens: Kürzungen der Hilfsgelder verschärfen die Lage
Dieses Gefühl des Verlassenseins fand ich in vielen Geschichten wieder. Die Daten untermauern dies: Während meines Aufenthalts im Nordosten fand die Geberkonferenz 2024 für Syrien statt. Die Mittel für humanitäre Programme wurden um 20 Prozent gekürzt, nachdem sie schon im Vorjahr zurückgefahren worden waren.
Um dem humanitären Bedarf im Land zu entsprechen, bräuchte es 2024 geschätzte 4,07 Milliarden US-Dollar. Nur sechs Prozent, das heißt 326 Millionen US-Dollar, wurden über den sogenannten Humanitarian Response Plan tatsächlich bereitgestellt.
Im März schloss wegen fehlender Mittel ein von der Weltgesundheitsorganisation finanziertes medizinisches Überweisungssystem für elf Camps, darunter Al-Hol. Die Menschen hier haben nun keinen Zugang zu medizinischen Spezialist*innen, auch nicht für behandelbare und vermeidbare Krankheiten und dringende Operationen.
Zur Wirtschaftskrise und der schlechten Ernährungslage kommt eine beispiellose Wasserknappheit. Millionen Syrer*innen fehlt der gesicherte Zugang zu sauberem Trinkwasser, auch im Camp. Damit steigt das Risiko, dass sich Krankheiten wie Cholera, Masern und Atemwegsinfektionen ausbreiten. Der Nordosten Syriens müsste sich dringend auf Epidemien vorbereiten, warnen unsere Teams vor Ort.
Die internationale Gemeinschaft muss handeln
Ich verließ den Nordosten Syriens mit dem Gefühl, dass da zwar ein Funken Hoffnung ist, dass dieser vergessene Winkel aber viele Probleme allein schultern muss. Es ist ein Ort, an dem die internationale Gemeinschaft weiterhin eine große Rolle bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe spielen müssen wird. Dies gilt insbesondere für das Camp Al-Hol. Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, die von den USA geführte Anti-IS-Koalition, die internationalen Geber und die Länder, deren Bürger in Al-Hol festgehalten werden, müssen gemeinsam eine Lösung für die im Camp festgehaltenen Menschen finden. Der Syrienkonflikt ist zwar abgeflaut, aber das Gefühl einer möglichen Eskalation bleibt bestehen. Das ist das Gefühl, das in der Luft liegt. Es verschlimmert das schwere Trauma der Menschen dort, die gefangen und schutzlos darauf warten, was kommt.
Unsere Hilfe in Syrien
Seit 2009 sind wir in Syrien im Einsatz. Mehr Informationen zu unseren Aktivitäten vor Ort finden Sie hier.