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Gazastreifen: Das Leben von Schwangeren und Neugeborenen ist in Gefahr

Nach neun Monaten Krieg ist die Lage durch das zusammengebrochene Gesundheitssystem im Gazastreifen besonders für Schwangere und Kinder sehr gefährlich. Auch sie sind von wiederholten Vertreibungen, katastrophalen Lebensbedingungen, Unsicherheit und schlechter Ernährung betroffen. Unsere Teams im Süden des Gazastreifens beobachten direkt, wie dort Frühgeburten und Mangelernährung bei Kindern zunehmen. 

"Meine Tochter war müde. Sie lehnte ihren Kopf zu mir und bewegte sich nicht. Sie war dem Tod nahe, bevor wir das Krankenhaus erreichten," erzählt uns Hanin (1), als sie mit einem Karren unser stationäres Ernährungszentrum erreichten. Trotz des kritischen Zustands ihrer Tochter fand Hanin zunächst keine Transportmöglichkeit, um ins Al-Nasser-Krankenhaus zu gelangen. 


Einzige Gesundheitseinrichtung für Geburten und pädiatrische Versorgung im Süden 

Das Al-Nasser-Krankenhaus versorgt immer wieder viele Kriegsverletzte und ist das letzte größere Krankenhaus, das Mütter und Kinder in Chan Junis behandelt. Im Februar dieses Jahres stürmten israelische Streitkräfte nach mehrwöchigen heftigen Kämpfen mit bewaffneten palästinensischen Gruppen in dem umliegenden Gebiet die Einrichtung, die zuvor belagert worden war. Unsere Teams waren gezwungen, das Krankenhaus zu verlassen. Im Mai kehrten wir zurück und eröffneten kurz darauf gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium und anderen Akteuren die Geburts- und Kinderstationen wieder. Zudem unterstützen wir die pädiatrische Intensivpflege und die Neugeborenen-Intensivstation. 

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Gaza: Al-Nasser Krankenhaus; Entbindungen
Unser Krankenpflege-Leiter Mohammad Shihada und unsere medizinische Teamleiterin Joanne Perry besuchen frühgeborene Kinder.
© Mariam Abu Dagga/MSF

 

“Mangelernährte Kinder hat es in Gaza noch nie gegeben” 

„Wir sehen mangelernährte Kinder, ein Problem, das es in Gaza noch nie gegeben hat“, sagt Joanne Perry aus unserem medizinischen Team: 

Die Menschen leben in Zelten mit minimalem Zugang zu sauberem Wasser und miserablen sanitären Einrichtungen. Die Bombardierung hat die Abwasser- und Wassersysteme zerstört, was zu Durchfall, Dehydrierung, Hepatitis A und Hautinfektionen bei Kindern führt. 

Es mangelt an lebenswichtigen Gütern, was die Versorgung und die Qualität der Pflege gefährdet. Da es an anderen funktionierenden Gesundheitszentren mangelt, steigt die Zahl der Patient*innen im Al-Nasser-Krankenhaus jeden Tag ins Unermessliche. Zwischen dem 29. Juni und dem 5. Juli verzeichnete allein die pädiatrische Notaufnahme mehr als 2.600 Konsultationen. Das bedeutet, dass die Teams jeden Tag mehr als 300 Kinder behandeln. Da immer mehr von ihnen zur stationären Behandlung aufgenommen werden, müssen sie sich inzwischen die Betten teilen. Für die ohnehin massiv belasteten Mitarbeiter*innen eine kaum zu bewältigende Situation. 

Schwanger im Krieg, im Zelt, in der Hitze ... 

Ich komme aus dem Norden des Gazastreifens. Wir wurden im ersten Monat des Krieges vertrieben, da hatte ich gerade erfahren, dass ich schwanger bin. Auch hier im Süden wurden wir beschossen. Wir lebten in Zelten auf Sand, in der Hitze. Ich habe sehr gelitten. Immer wieder hat sich mein Zustand verschlechtert“, berichtet unsere Patientin Khadra (1). 

Täglich werden im Al-Nasser-Krankenhaus 25 bis 30 Geburten begleitet. Dabei ist schon der Weg ins Krankenhaus für die Frauen eine Gefahr. Sie sind oft gezwungen, inmitten der Kämpfe und ohne sichere Transportmittel unsichere Wege zu nutzen. So gelangen sie oft nur sehr verzögert an medizinische Unterstützung, und damit erhöht sich das Risiko von Komplikationen. 

“Ich habe drei Tage lang nichts getrunken und stille das Baby" 

„Die größten Gesundheitsrisiken für Schwangere sind blutdruckbedingte Komplikationen wie Eklampsie, Blutungen und Sepsis - die tödlich enden können, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden“, erklärt unsere Gesundheitsberaterin Mercè Rocaspana. 

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Gaza: Al-Nasser Krankenhaus; Entbindungen
Khadra (1) und ihr Neugeborenes, das sie per Kaiserschnitt zur Welt brachte.
© Mariam Abu Dagga/MSF

Gleichzeitig müssen die Frauen nach der Entbindung schnell wieder in unhygienische Verhältnisse zurückkehren, oft in Zelte, in denen Nahrungsmangel und ständiger Stress ihre Gesundheit und die ihrer Neugeborenen weiter gefährden: „Gestern habe ich mein Kind [per Kaiserschnitt] zur Welt gebracht, heute muss ich das Krankenhaus schon wieder verlassen, weil es keinen Platz gibt. Ich habe drei Tage lang nichts getrunken, und jetzt stille ich das Baby. Es gibt hier keine Babynahrung, keine Windeln, keine Kleidung. Es ist schwer, mit einem Neugeborenen in einem Zelt zu leben. Es gibt weder ein Bett noch eine Matratze für das Baby“, sagt Khadra (1). 

Die einzige noch funktionierende Neugeborenenstation 

Auf der Geburtsstation sehen wir viele Frühgeburten. Die Säuglinge werden dann auf der Neugeborenen-Intensivstation behandelt - “die einzige, die im Gazastreifen noch funktionsfähig ist“, erklärt unsere medizinische Teamleiterin Joanne Perry. 

„Wir können den Menschen durch die Versorgung im Nasser-Krankenhaus Hoffnung geben. Auf der Geburtsstation ist jede Geburt ein Moment der Freude, der für Hoffnung und einen neuen Anfang steht“, sagt sie. 

Der Wunsch: Das Baby soll in Frieden und Sicherheit leben

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Gaza: Al-Nasser Krankenhaus; Entbindungen
Unsere Hebamme Hin So kümmert sich um Neugeborene.
© Mariam Abu Dagga/MSF

Doch auch mit der einzigen funktionierenden Geburtsstation im Süden des Gazastreifens wird das Krankenhaus weiterhin mit Kapazitätsproblemen zu kämpfen haben. Die Wiedereröffnung ist ein Schritt in Richtung einer besseren Versorgung. Doch ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand im Gazastreifen ist neben ungehinderter humanitärer Hilfe die einzige Lösung, um das Leiden der im Gazastreifen eingeschlossenen Menschen, einschließlich Schwangerer und Kinder, zu lindern. 

„Meine Hoffnung ist, dass wir sicher nach Hause zurückkehren können. Auch wenn es nur in ein Zimmer ist. Und dass das Baby in Sicherheit und Frieden leben kann wie andere Kinder auf der Welt“, wünscht sie unsere Patientin Khadra (1). 

 

 

 (1) Namen zum Schutz der Privatsphäre geändert