Wenn der Durchbruch nur die Mauer zementiert
Nach sechs Jahren Stillstand in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik haben die Justiz- und Innenminister*innen der EU am 10. Juni 2022 ein erstes Maßnahmenpaket beschlossen. Es war die letzte Sitzung unter der französischen Ratspräsidentschaft. Sie hatte sich auf die Fahnen geschrieben, diese jahrelange Blockade endlich zu durchbrechen. Also wird das Paket als Erfolg und Durchbruch gefeiert – ohne dass es groß interessiert, was da genau beschlossen wurde.
Grenzschließungen innerhalb von Schengen möglich
Nach dem Willen der EU-Länder soll zuallererst der Schengener Grenzkodex verschärft werden: Durch eine neue Verordnung mit dem vielsagenden Namen „Instrumentalisierungsverordnung“. Sie sieht vor, dass Binnengrenzen geschlossen werden dürfen, wenn die EU durch absichtlich herbeigeführte Flüchtlingsbewegungen unter Druck gesetzt wird.
Hintergrund dieses neuen Konstruktes sind die Geschehnisse entlang der polnisch-belarussischen Grenze im vergangenen Herbst und Winter. Dort steckten tausende schutzsuchende Menschen über Wochen hinweg fest, ohne Zugang zu einem fairen Asylsystem oder zu einer Grundversorgung. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen wurden sogar aktiv davon abgehalten, Hilfe zu leisten. Wir waren deshalb im Januar gezwungen, unsere Teams aus Polen abzuziehen.
Eine verpasste Gelegenheit
Man hätte Öffnung und Transparenz schaffen können, hätte man gewollt. Statt die Situation an den EU-Außengrenzen endlich menschenwürdig zu gestalten und die andauernden illegalen Push-backs zu stoppen. Statt aber die illegale Praxis der letzten Jahre aufzuarbeiten, faire Verfahren und ein stabiles Versorgungssystem aufzubauen, ist das Gegenteil geschehen: Es können jetzt also noch zusätzliche Grenzregionen geschlossen werden.
Grenze zu, Problem gelöst?
Wenn wir in unseren Projekten entlang der – geschlossenen - EU-Außengrenzen in den vergangenen Jahren eines gelernt haben, dann wie drastisch sich willkürliches festgesetzt werden unter menschenunwürdigen Bedingungen auf die Gesundheit von schutzsuchenden Menschen auswirkt. Das betrifft Familien genauso wie allein reisende Männer, Frauen und Kinder.
Schon jetzt ist abzusehen, dass die Schließung von Grenzen innerhalb des Schengenraums dazu führen wird, dass schutzsuchende Menschen noch brutaler zurückgedrängt und davon abgehalten werden, ihr Recht auf ein faires Asylverfahren, Schutz und Versorgung auszuüben.
Solidarität bleibt freiwillig
Ein weiterer Gesetzentwurf auf der Tagesordnung befasste sich mit der Frage der Solidarität. Gemeint ist damit aber keineswegs echte Solidarität mit den schutzsuchenden Menschen, sondern die Solidarität von Mitgliedstaaten im inneren des Schengenraums mit solchen, die eine EU-Außengrenze haben.
Hierüber wird seit Jahren gestritten: Wie kann die Aufgabe, schutzsuchende Menschen zu versorgen, aufzunehmen und in die Gesellschaften zu integrieren, fair und sinnvoll zwischen den EU-Mitgliedstaaten aufgeteilt werden? Eine Einigung konnte hier nur erzielt werden, weil die Form und das Ausmaß der Solidarität ausdrücklich als freiwillig deklariert wurden.
Ist die Missachtung europäischer Werte tatsächlich Fortschritt?
Trotz der so oft gepriesenen gemeinsamen europäischen Werte konnten sich die EU-Staaten wieder nicht gemeinschaftlich den Bedürfnissen der Schutzsuchenden verpflichten. Trotzdem verkauft auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser die Beschlüsse als Fortschritt. Das ist umso bitterer, weil es ehrlich offenlegt, wie wenig noch der Anspruch besteht, einen wirksamen Schutz für Geflüchtete in Europa zu gewährleisten.
Diese Offenbarung kommt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Anzahl der weltweit Vertriebenen auf über 100 Millionen Menschen angestiegen ist. Nach wie vor suchen zwei Drittel von ihnen Schutz im eigenen Land und 72 Prozent der aus ihrem Heimatland vertriebenen Menschen bleiben in den Nachbarländern.
Menschenleben sind Menschenleben
Als Ärzte ohne Grenzen fordern wir seit Jahren, dass die betroffenen Menschen selbst im Zentrum der Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union stehen müssen. Wir fordern:
- Legale und sichere Fluchtwege
- Menschenwürdige Unterbringung und Zugang zu Versorgungsleistungen inklusive der medizinischen Versorgung und psychosozialer Begleitung auch und insbesondere an den EU-Außengrenzen.
- Wirksamer Zugang zu fairen Asylverfahren, die rechtsstaatlichen Standards entsprechen
- Ein staatliches Seenotrettungsprogramm und das Ende der Finanzierung der libyschen Küstenwachen durch die EU und ihre Mitgliedstaaten
Die EU und ihre Mitgliedstaaten beweisen aufs Neue, dass sie es nicht als ihre Verantwortung betrachten, die an ihren Grenzen ankommenden Menschen fair, menschenwürdig und der EU-Menschenrechtscharta entsprechend zu behandeln. Das muss sich dringend ändern.
Polen, Deutschland und viele weitere EU-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Monaten bei der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten bewiesen, dass eine wirksame Versorgung schutzsuchender Menschen möglich ist. Damit ist der grundsätzliche Beweis erbracht, dass Europa auch anders kann. Wir erwarten, dass insbesondere die Bundesregierung diese Politik der Chancen ab jetzt auch gegenüber Schutzsuchenden aus anderen Herkunftsländern beibehält.