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Gazastreifen: "Es fehlt an allem, sogar an einer Vorstellung von der Zukunft"

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Davide Musardo vor einer Wand mit Kinderbildern in OP-Kleidung

Davide Musardo

Davide Musardo arbeitete als psychosozialer Berater sowohl im Indonesischen Krankenhaus (inzwischen mussten wir unsere Arbeit dort beenden), als auch im Al-Nasser-Krankenhaus in Rafah. Er unterstützte dort Kinder und Erwachsene psychologisch, die von Bombardierungen, Gefechten und ständigen Vertreibungen traumatisiert sind.

Nur ein Waffenstillstand wird den Menschen eine Chance auf die Bewältigung ihrer psychischen Traumata geben. 

Unsere Teams in Rafah begegnen Kindern und Erwachsenen, die unterschiedliche psychische Probleme und Erkrankungen haben. Wir haben im Gazastreifen seit Anfang dieses Jahres mehr als 8.800 psychosoziale Sitzungen abgehalten. In einigen Sitzungen mussten wir schreien, um den Lärm der Drohnen und Bomben zu übertönen. Wenn draußen nicht gekämpft wurde, hörte man dann die Schreie der Kinder im Krankenhaus im Hintergrund: sie sind von Kindern mit Verstümmelungen, Verbrennungen oder Panikattacken. Physischer Schmerz löst auch psychische Wunden aus, wenn er dich an die Bombe erinnert, die dein Leben für immer verändert hat. Die Kinder, die ich im Krankenhaus sah, zeigten deutliche Anzeichen von Regressioni. 

Gesichter, geprägt von Verlust, Traurigkeit und Depression 

So etwas wie im Gazastreifen habe ich noch nie erlebt. Es gibt einige Merkmale, die alle Patient*innen, die ich dort gesehen habe, gemeinsam haben: Stark gebräunte, fast verbrannte Haut, weil die Menschen den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt sind. Gewichtsverlust, weil das Essen knapp ist. Weißes Haar vom Stress dieser Kriegsmonate. Und sie alle haben ausdruckslose Gesichter. Ein Gesicht, das Verlust, Traurigkeit und Depression ausdrückt. Menschen, die alles verloren haben. 

Menschen einen sicheren Raum zum Zuhören bieten 

Ein Patient erzählte mir: „Ich vermisse die kleinen Dinge. Die Bilder meiner Mutter, die vor Jahren gestorben ist, und die Tasse, aus der ich immer Kaffee getrunken habe.“ Andere löschen Fotos von Familienmitgliedern, die bei den Bombardierungen ums Leben gekommen sind, von ihren Handys. Sie hoffen, wenn sie die Bilder nicht mehr sehen, würde das ihr Leid lindert. Ein anderer Patient sagte zu mir: „Ich habe seit Monaten kein Glas frisches Wasser mehr getrunken. Was ist das für ein Leben?“ 

Ich habe gesehen, wie Menschen zusammenbrachen, als sie die Nachricht von einem weiteren Evakuierungsbefehl erhielten.i Manche haben in acht Monaten zwölf Mal den Ort gewechselt. Ich habe Menschen sagen hören: „Ich werde mein Zelt nicht mehr woanders neu aufbauen, da kann ich auch sterben." 

Kaum Zuversicht auf Frieden und Wiederaufbau 

Im Gazastreifen fehlt es an allem, sogar an einer Vorstellung von der Zukunft. Für die Menschen ist die größte Qual nicht die Gegenwart - die Bomben, die Kämpfe und die Trauer -, sondern die Leerstelle: Was wird danach kommen? Es gibt kaum Zuversicht auf Frieden und Wiederaufbau. 

Obwohl ich den Gazastreifen verlassen habe, ist es, als wäre ich immer noch dort. Ich kann immer noch die Schreie hören. Wir brauchen einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand. Ohne ihn ist die Heilung der tiefgreifenden psychischen Wunden unmöglich.

Unsere psychologische Hilfe 
In Projekten im Gazastreifen und im Westjordanland bieten wir verschiedene Formen psychologischer und psychosozialer Hilfe an. Dazu gehören psychologische Erste Hilfe wie auch Einzel- und Gruppensitzungen.