Jemen: Von stillen Held*innen und großen Vorbildern
Seit 6 Monaten bin ich nun schon im Jemen und habe jetzt noch einmal das Projekt gewechselt. Für die letzten Wochen des Einsatzes bin ich wieder in Khamer, wo ich zu Beginn schon einmal gearbeitet habe.
Das Bergdorf Haydan nach zweieinhalb Monaten zu verlassen war wirklich nicht einfach. Die Menschen dort sind mir so ans Herz gewachsen. Zu wissen, dass ich sie vermutlich nicht wiedersehen werde, war schwer und traurig. Die jemenitischen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen leben dort ihr Leben. Immer. Mit all den Entbehrungen und Schwierigkeiten im Alltag und in der medizinischen Versorgung. Wenn es eine Benzinblockade gibt, was letzten Monat der Fall war, funktionieren die Generatoren nicht mehr. Damit auch die Wasserpumpen und die Versorgung mit Frischwasser. Die Transportwege werden immer komplizierter und teurer, da nur noch wenige Menschen Zugang zu Benzin haben.
Somit kommen immer mehr Patient*innen sehr spät und in sehr kritischem Zustand. Zum Glück hatte Ärzte ohne Grenzen für diesen Fall genug Benzinreserven, sodass uns die Benzinblockade im Krankenhaus selbst nicht weiter beeinträchtigt hat. Für die Bevölkerung war es aber wochenlang sehr schwierig.
Der Krieg: Sinnlose Zerstörung
Haydan hat mir viel beigebracht. Medizinisch, politisch, gesellschaftlich, menschlich. Ich habe gesehen was richtige Armut bedeutet. Was es bedeutet nicht genug Geld zu haben, um seine Kinder zu ernähren. Was es für Konsequenzen hat, in sehr miserablen hygienischen Verhältnissen zu leben. Die Nähe zum Krieg hat mir beigebracht, Flugzeuggeräusche anders wahrzunehmen und in der Notaufnahme sowohl mit den physischen als auch mit den psychischen Folgen der Gewalt konfrontiert zu werden. Ich habe viele Verletzungen von Luftangriffen gesehen, Verbrennungen, Granatsplitterverletzungen, Amputationen. Aber auch einen körperlich unversehrten Mann, der uns mit einem schweren psychischen Trauma von der Frontlinie gebracht wurde und für den unser Team sehr viele Beruhigungsmittel benötigte, um die Situation einigermaßen händeln zu können.
Ich habe immer „nur“ die Folgen des Krieges gesehen, nie eine direkte Kampfhandlung. Doch das reicht schon aus, um den Hauch einer Ahnung davon zu bekommen, wie es im Frontgebiet sein muss. Es ist zerstörerisch. Und so sinnlos. Und die Welt schaut meist weg.
Die Auswirkungen des Krieges sind fatal. Nicht nur die Todesopfer und Verletzen als direkte Folgen, sondern auch ein zerstörtes Gesundheitssystem, große Armut, schwere Unterernährung und nicht zuletzt eine Bildung, die seit mehreren Jahren ausgesetzt ist.
Die Lehrer*innen können nicht mehr vom Staat bezahlt werden, die Schulen sind teilweise zerbombt. Dass die Jemenit*innen trotz der schwierigen Lebensbedingungen meist sehr dankbar und zufrieden sind, hat mich hier immer wieder zutiefst beeindruckt. Sie lieben den Ort, an dem sie leben. Das ist ihre Heimat.
Stille Held*innen und große Vorbilder
Ich habe mit vielen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen gesprochen. Keiner von ihnen will fliehen, auswandern, fortgehen. Sie bleiben im Jemen, geben mit einer unglaublichen Motivation und Energie alles für ihre Patient*innen. Sie kämpfen trotz all der Rückschläge weiter, immer wieder aufs Neue.
Sie fragen nicht verzweifelt, warum dieses Kind in dieser Situation so krank werden musste, sondern bemühen sich mit aller Energie, dass es wieder gesund wird. Sie geben nicht auf. Sie sind für mich stille Held*innen und große Vorbilder und haben mich nachhaltig geprägt.
Der Abschied aus Haydan war emotional und wunderschön. Am letzten Abend haben die jemenitischen Ärzt*innen ein großes Essen für mich organisiert. Es gab ein ganzes Lamm und viele jemenitische Nationalgerichte. An diesem Abend saßen wir alle bis nachts zusammen, haben viel geredet und gelacht. Wir alle waren unglaublich dankbar für die Zeit, die wir gemeinsam haben durften.
Ich konnte in Haydan ein bisschen was hinterlassen – Kinder, welche wir entgegen aller Erwartungen heilen konnten; eine pädiatrische Intensivüberwachungsstation mit zwei Betten, die ich eröffnet habe; viele Trainingsstunden in Pädiatrie und Neonatologie für die Allgemeinmediziner*innen und nicht zuletzt einen Kaffeebaum, den ich gemeinsam mit meinen Kolleg*innen gepflanzt habe.
Doch am Allermeisten haben die Menschen in Haydan etwas in mir hinterlassen. Und das wird bleiben…
Khamer: Rückkehr in ein zweites Zuhause
Der Weg nach Khamer brachte mich wieder zurück in das laute und pulsierende Leben, weg von den Bergen und der grünen Natur in die karge Wüstenhochebene. Auch wenn ich das Bergdorfleben im Allgemeinen bevorzugt habe, habe ich die Zusammenarbeit und den Austausch mit den Kolleg*innen hier in Khamer sehr vermisst. Es war ein bisschen wie nach Hause kommen und wir haben uns so gefreut, uns wiederzusehen. Ich war dankbar, dass ich wieder Kinderärzt*innen hatte, mit denen ich gemeinsam jeden kritischen Fall diskutieren konnte.
Das sollte bereits ab dem ersten Tag wieder von Nöten sein. Die Sommermonate bringen durch die Regenzeit viel Wasser – und viele Infektionen, insbesondere Magen-Darm-Erkrankungen. Die Kinder, die vorher moderat mangelernährt waren, werden durch anhaltende Durchfälle schwer akut mangelernährt und durch begleitende Infektionen lebensbedrohlich krank. Letzte Woche hatte ich eine 4-jährige in Behandlung, die sieben Kilogramm gewogen hat. Sieben Kilogramm! Das Gewicht haben Kinder normalerweise mit sechs Monaten. Viele schwer akut mangelernährte Kinder kommen im Schockzustand, haben beginnendes Nierenversagen, anhaltende Krampfanfälle oder schwere Herzrhythmusstörungen durch Elektrolytstörungen. Mitte des Monats hatten wir 80 Kinder bei uns auf den Stationen – bei 55 Betten.
Es fehlte an allem - Platz, Personal, Medikamenten. Wir bauten ein Zelt auf das Krankenhausdach, in dem es tagsüber zu heiß und nachts zu kalt war.
Somit konnten wir dieses Zelt nur für stabile Patient*innen nutzen. Wir haben einen Raum unserer Mangelernährungsstation in eine zweite Intensivstation umgewandelt, weil wir mehr Intensivbetten brauchten. Teilweise mussten zwei Patient*innen in einem Bett schlafen. Auch in der Entbindungsstation sah es ähnlich aus. Als ich an einem Tag auf die Station kam, lagen in einem Bett zwei Frauen – eine hatte gerade entbunden und ihr Baby im Arm, die andere lag mit starken Wehen neben ihr. Auf dem Boden waren provisorische Matratzen verteilt, auf welchen ebenfalls werdende Mütter lagen, so dass man sich einen Pfad hindurch zum Kreißsaal suchen musste. Dorthin kamen die Schwangeren nur für die letzten 10 Minuten der Presswehen, um die beiden Entbindungspritschen schnellstmöglich wieder frei zu machen.
Da kommen Gedanken auf. Welchen Luxus haben wir in Deutschland?
Über was „dürfen“ wir uns Gedanken machen? Will ich lieber eine Wassergeburt, ein Entbindungsbett oder den Pezziball? Bekomme ich danach ein Familienzimmer? Wie ist das Frühstück auf der Wochenbettstation? Welchen Schnuller suche ich für mein Baby aus? Sind die Babykleider farblich auch wirklich passend? Ist ein Beistellbett montiert? Welche Windelmarke ist die Beste? Habe ich mich in der Krabbelgruppe und beim Babyschwimmen angemeldet? Versteht mich nicht falsch, ich will das nicht kritisieren. Ich will nur verdeutlichen, welches Glück und welche Möglichkeiten wir haben.
Das pure Leben – so wunderschön
Im Jemen erkennt man nie anhand der Kleidung, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Die Eltern hier sind froh, wenn sie überhaupt Wechselkleidung haben. Es gibt keinen Stubenwagen – entweder wird aus einem Schal eine kleine Hängematte neben dem Bett gebunden oder aus Holzstücken und Stofflaken ein kleines Bettchen improvisiert. Nuckelflaschen haben nur sehr wenige Familien.
Die meisten schrauben den Deckel der Plastikflasche ab und nutzen ihn als Minitasse. Dass die Plastikflaschen hier für alles genutzt werden, ist ein riesiges Problem. Neulich hatte ich einen Säugling, dem versehentlich Batteriesäure gefüttert wurde, da die Mutter dachte, dass es die normale Wasserflasche ist. Er hatte eine schwere toxische Lungenentzündung und Verätzungen und war in sehr kritischem Zustand. Nach ein paar Tagen Intensivstation hat er sich wie durch ein Wunder langsam stabilisiert.
Ja, unsere kleinen Wunder. Die haben wir immer wieder. Am meisten liebe ich es, wenn mich manche Kinder nach schwerer Erkrankung zum ersten Mal wieder anlächeln. Das ist wirklich am allerschönsten.
Vorher waren sie lethargisch, teilweise bewusstlos und dann kommen sie langsam wieder an in der Welt und lächeln mich an. Wir haben für sie gekämpft, die Familie hat gekämpft, das Kind hat gekämpft. Es waren Tage des Bangens, Tage mit Rückschlägen und Unsicherheit und dann das erste Lächeln. Da braucht es wirklich nicht mehr. Das ist das pure Leben und so wunderschön.
Kein Tag wie der andere
Nun sind meine letzten drei Wochen im Jemen angebrochen und ich versuche nochmal, alles in mich aufzusaugen, mitzunehmen, auf mich wirken zu lassen. Ich habe weiterhin sehr viel zu tun und probiere mit meinen jemenitischen Kolleg*innen, das Ruder in manchen Fällen nochmal rumzureißen. Wir bemühen uns, mit der Hilfe von Spezialist*innen aus aller Welt per Telemedizin, auch sehr komplexen Fällen zu helfen.
Doch nicht nur medizinisch, auch im sozialen Bereich gibt es hier immer wieder kleinere und größere Aufgaben. Letzte Woche hatten wir eine Großmutter in der Notaufnahme, die mit ihrem drei Wochen alten Enkel kam. Der Vater war an der Front gestorben, die Mutter bei der Geburt. Das Kind hatte einen Hydrocephalus (Wasserkopf) und war gerade in Sanaa operiert wurden. Die Großmutter war sehr arm und besaß gar nichts, sodass wir sie mit einer großen Menge an Windeln und Säuglingsmilch ausstatteten, damit sie den Kleinen zuhause versorgen konnte.
Ja, hier ist wirklich kein Tag wie der andere. Leben und Tod, Glück und Trauer, Lachen und Weinen. Hier passiert alles nebeneinander. So ist das Leben, das ist das Leben. Es ist intensiv, traurig, aber auch unglaublich schön. Und wir? Wir sind mittendrin.