Jemen: Ein Krankenhaus retten in 6 Stunden
Es ist früh am Freitagmorgen als das Telefon klingelt. Einer meiner Teamkollegen ruft an, um mir mitzuteilen, dass das Krankenhaus geschlossen wird.
- „Was soll das heißen, das Krankenhaus wird geschlossen?“
- „Ihnen geht der Treibstoff aus - also schließen sie alles“, erwidert er.
- “Machst du Witze?“, frage ich. „Nein, nein, nein, sie können doch nicht das Krankenhaus schließen!“
Ärzte ohne Grenzen betreibt die Entbindungsstation des Krankenhauses in Tais im Jemen. Wir haben kranke Patient*innen auf Station, einige von ihnen in einem kritischen Zustand. Wir haben Babys in Inkubatoren. Das wäre eine Katastrophe. Das darf nicht passieren. Wir müssen Treibstoff finden, und zwar schnell...
Eine belagerte Stadt
Tais ist eine Stadt im Südwesten des Jemen, hoch oben in den Bergen. Die Fahrt von der Hauptstadt Aden dorthin dauert sieben Stunden. Man fährt durch die Wüste und dann eine sehr steile, windige und etwas furchteinflößende Straße hinauf in die Berge. Dann kommt man in dieser schönen, abgeschiedenen Stadt an.
Es gab Zeiten, da teilte die Frontlinie die Stadt in zwei Hälften. Obgleich sich die Front mittlerweile verlagert hat, sind Kämpfe, Verletzungen durch Scharfschützenfeuer und Landminen weiterhin ein Problem. In vielerlei Hinsicht ist es immer noch eine belagerte Stadt. Aufgrund des Konflikts und der Blockaden ist es eine große Herausforderung, irgendetwas nach oder aus Tais heraus zu transportieren - seien es Lebensmittel, Ausrüstung oder Treibstoff.
Der medizinische Bedarf hier ist enorm. Als wir im Jahr 2021 die Entbindungsstation in einem der Krankenhäuser von Tais übernahmen, war die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen sehr, sehr hoch. Das Team hat hart daran gearbeitet, diese zu senken. Es hat mich sehr gefreut, dass die Sterblichkeitsrate der Mütter ebenfalls sank. So gab es während meines Einsatzes keine Todesfälle unter den Müttern.
Ich kann die richtigen Leute finden
Meine Aufgabe als Projektkoordinatorin ist es, das Team zu unterstützen. Ich koordiniere alle Abteilungen - Personal, Finanzen, Logistik, Versorgung - und sorge dafür, dass das medizinische Team alles hat, was es braucht, um seine Arbeit zu machen und Leben zu retten. In dieser Funktion bin ich Managerin, Problemlöserin, Buchhalterin, Sicherheitsberaterin und Seelsorgerin in einer Person.
Jeder im Team, der eine Frage oder ein Problem hat kommt zu mir und gemeinsam finden wir eine Lösung. Natürlich kann ich einer Chirurg*in keine Fachfragen beantworten und ich weiß nicht, wie man einen Generator repariert, aber ich kann Leute finden, die es können. Es ist meine Aufgabe, Lösungen für Probleme zu finden - zum Beispiel, wenn einem Krankenhaus der Treibstoff ausgeht...
„Was für ein Team!“
Ich beende das Telefonat und telefoniere auf dem Weg zum Krankenhaus mit meinem Team dort.
- „Wie viel Treibstoff haben wir noch?“
- „Sechs Stunden, dann ist Schluss.“
- „Okay, das ist unsere Deadline. Und wir brauchen einen Plan B.“
Wir analysieren die Situation ein: Wie viele Patient*innen haben wir? In welchem Zustand befinden sie sich? Können wir einige Patient*innen an andere Krankenhäuser überweisen?
Das medizinische Team arbeitet an der Strategie, während ich mich mit dem Logistikteam auf die Suche nach Treibstoff mache.
Hassan Faree [1], der Logistikmanager, und der Logistikleiter, der mit Vornamen ebenfalls Hassan heißt, sind bereits im Krankenhaus. Es ist kurz nach 6 Uhr morgens. Ich brauchte sie nicht einmal anzurufen, sie sind schon da und arbeiten an einer Lösung. Was für ein Team!
Das ist mit das Beste an der Arbeit hier. Die Mitarbeiter*innen sind so zuverlässig, so fleißig, so freundlich. Als ich hier ankam, haben mir die Kolleg*innen ständig Geschenke gemacht. Das ging so weit, dass ich sagen musste: „Leute, vielen Dank, aber ihr müsst mit den Geschenken aufhören.“ Darauf kam die Frage: „Was ist mit dem Essen? Können wir dir weiterhin Essen geben?“ Und ich konnte nur sagen: „Oh ja, auf jeden Fall, ihr könnt mir weiter Essen geben. Es ist köstlich.“
Nicht aufgeben!
Wir rufen Treibstofflieferanten an. Alle sagen, dass sie morgen oder übermorgen problemlos liefern können, aber nicht heute. Das Problem ist auch, dass heute nicht nur Freitag, der freie Tag der Woche, sondern auch Eid al-Fitr, das Zuckerfest ist. Das ist die ungünstigste Kombination von Umständen, die es geben kann.
Wir rufen noch mehr Leute an, wir verhandeln, wir betteln, wir bitten um Leihgaben, aber alle sagen dasselbe: Es ist unmöglich heute eine Treibstofflieferung zu bekommen.
Erneute Beratung mit dem medizinischen Team: Einige Patient*innen können verlegt werden, aber für andere, zum Beispiel die Babys in den Inkubatoren, besteht ein echtes Lebensrisiko, wenn wir sie verlegen.
Ich lehne mich für einen Moment zurück. Es muss doch eine Lösung geben. Ich denke an eine ähnliche Situation, die ich in Syrien erlebt habe. Ich hatte dort ein Covid-Krankenhaus geleitet und einmal drohte uns der Sauerstoff auszugehen. Man kann ein Covid-Krankenhaus nicht ohne Sauerstoff betreiben. Ich erinnere mich, dass ich Alpträume hatte, als würde ich ersticken und nicht mehr atmen können. In letzter Minute fanden wir eine Lösung und unsere Patient*innen bekamen den nötigen Sauerstoff.
Gib nicht auf, erinnere ich mich selbst. Man kann immer eine Lösung finden, wenn man dranbleibt.
Olivias Treibstoff
Das ganze Team kommt zusammen, geht weiteren Hinweisen nach, telefoniert, bespricht mögliche Optionen. Plötzlich hält eine der Hebammen inne und ruft: „Olivias Treibstoff! Wir sollten Olivias Treibstoff nehmen!“
Kurz zur Erklärung: Olivia Williams [1] war unsere Wasser- und Sanitärexpertin. Sie hatte viel Zeit und Mühe investiert, um einen Verbrennungsofen im Krankenhaus zu installieren. Damit können wir unseren Abfall effektiver und sicherer entsorgen. Sie war vor kurzem nach England zurückgekehrt, hatte sich aber sehr um die laufende Wartung dieses neuen Geräts gekümmert. Kurz vor ihrer Abreise machte sie allen klar: „Niemand fasst den Treibstoff der Verbrennungsanlage an.“
Entschuldige, Olivia!
Ein Team macht sich auf den Weg, um das zu überprüfen: Ja! Im Tank der Verbrennungsanlage befinden sich 1.500 Liter Kraftstoff - genug, um uns bis zur morgigen Lieferung zu versorgen.
Ich schicke Olivia eine kurze SMS. „Tut mir leid, wir leihen uns den Treibstoff aus eurer Verbrennungsanlage. Ich verspreche, dass wir ihn in 24 Stunden zurückbringen.“
Wir machen uns an die Arbeit, aber es gibt ein neues Problem: Wir haben keine Pumpe, um den Brennstoff aus dem Tank der Verbrennungsanlage zu pumpen. Also machen wir es per Hand. Wir haben bereits die Vier-Stunden-Marke überschritten und nur noch etwas mehr als eine Stunde, bevor die Lichter ausgehen.
Hassan und Hassan fangen an, Kanister im ganzen Krankenhaus zu sammeln. In kurzer Zeit ist ein Team dabei, sie zu befüllen. Ein anderes Team trägt die Kanister dann von der einen Seite des Krankenhauses, auf die andere Seite, zum Generator, dessen Treibstoffvorrat bedrohlich knapp wird.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und sehr nervenzehrend, aber in weniger als einer Stunde ist der Job erledigt. Der Generator ist aufgefüllt, die Lichter bleiben an und was am wichtigsten ist, alle Patient*innen sind in Sicherheit.
Das war ein guter Arbeitstag.
[1] Die Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert.