“Meine Kinder haben schon drei Kriege durchlebt”
10. Mai 2021: Wir waren mitten in den Vorbereitungen für das Fest des Fastenbrechens, das an den Ramadan anschließt. Ich kaufte Geschenke für meine Kinder ein und wir haben gemeinsam gekocht. Am frühen Nachmittag kam ich von der Arbeit nach Hause und um 18 Uhr fing dann alles an.
Der Schock war groß. Niemand von uns hatte Bombardierungen in diesem Ausmaß erwartet.
Zur Flucht bereit
Ich habe die Konflikte im Jahr 2008, 2012 und 2014 miterlebt, aber noch nie waren die Bombardierungen so erschreckend und intensiv wie in diesem Jahr. Wir konnten nachts vor Angst nicht schlafen und unsere Sachen und Papiere waren gepackt, sodass wir jederzeit hätten fliehen können.
Wir schliefen meist nur noch am Morgen und schauten danach die Nachrichten, um herauszufinden, wo die nächsten Luftangriffe stattfinden würden.
Die Normalität bewahren
Bevor wir ins Bett gehen, verbringe ich Zeit mit meinen Kindern. In dieser Zeit haben wir versucht gemeinsam Filme zu schauen, Spiele zu spielen oder haben zusammen Burgen und Schlösser aus Legosteinen gebaut, aber all das konnte uns nicht ablenken und es wurde jeden Tag schlimmer. Dazu kam noch, dass es bei uns sehr überfüllt war: Das Haus meiner Schwester war zerstört worden und sie und ihre Familie wohnten vorübergehend bei uns. Das machte die ganze Situation nicht einfacher.
Wir haben alles versucht, um unsere Klinik nicht schließen zu müssen, um die medizinische Versorgung weitestgehend gewährleisten zu können. Wir richteten Sprechstunden mit den Patient*innen per Telefon ein, um sicher zu gehen, dass es ihnen gut geht.
Kein sicherer Ort
Am Dienstag - der letzte Tag der Gefechte - sagte ich meinem Team, sie sollen zu Hause bleiben, um sie zu schützen. Ich war der Meinung, ich sollte derjenige sein, der in so einer Situation zur Arbeit geht und die Versorgung gewährleistet. An diesem Tag behandelte ich 30 Patient*innen. Insbesondere emotional gesehen, war es ein sehr schwerer Tag. Viele Menschen, die an diesem Tag in unsere Klinik kamen, hatten ihr Zuhause verloren und waren provisorisch in einer Schule untergekommen.
Einer der schwierigsten Momente war, als ich sah, dass unsere Klinik zerstört worden war.
Vor diesen Konflikten dachten wir, die Klinik und das Büro befänden sich am sichersten Ort in Gaza – weit weg von den Grenzen und den Problemen da draußen - doch mit einem Mal gab es keinen sicheren Ort mehr in Gaza.
Als die Gefechte aufhörten, gingen wir sofort zu unserer Klinik, um zu retten, was zu retten war. Wir konnten nicht länger warten, denn es gab viele Patient*innen, die unsere Hilfe benötigten.
Der 3D-Drucker
Im physiotherapeutischen Bereich behandeln wir derzeit über 400 Patient*innen und die Zahl steigt wöchentlich. Die meisten von ihnen haben Verbrennungen im Gesicht oder Verletzungen an den Händen erlitten.
Leider wurde bei dem Beschuss auch unser Labor mit dem 3D-Drucker zerstört. Dort wurden spezielle Gesichtsmasken zur Kompressionstherapie für Menschen mit Verbrennungen hergestellt. In Gaza gibt es keine 3D-Drucker zu kaufen, aber ein lokaler Ingenieur hat es geschafft einen eigenen Drucker mit Materialien von hier zu bauen. So konnten wir die Herstellung der Masken fortführen.
Ein Leben ohne Freiheit
Wenn zwei Millionen Menschen innerhalb von 35 Quadratkilometern leben - ohne sauberes Wasser, ohne genug zu essen, ohne Arbeit und ohne Hoffnung - können einige damit irgendwann nicht mehr umgehen.
Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, und dazu gehört auch die Auflösung der Blockade des Gazastreifens, wird die Situation immer wieder eskalieren.
Dieses Land sollte geöffnet werden, sodass wir Zugang zu Flug- und Schiffshäfen haben und unsere Wirtschaft verbessern können.
Wenn wir nur mehr Freiheit hätten, würde sich so vieles zum Guten wenden.
Meine Kinder sind zehn und zwölf Jahre alt und mussten bereits drei Kriege miterleben. Ich wünsche mir, dass sie eine Zukunft haben und eine Ausbildung machen können. Wir alle hoffen und kämpfen noch immer für ein besseres Leben.
Ärzte ohne Grenzen in Gaza
Zwischen dem 10. und 21. Mai 2021 arbeitete ein Team von Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen in 24-Stunden-Schichten, um die Notaufnahme und die Operationssäle des Al-Awda-Krankenhauses in der Gegend von Jabalia zu unterstützen. Dort wurden durchschnittlich 40 bis 45 Patient*innen pro Tag zu behandelt.
Ärzte ohne Grenzen ist seit fast 15 Jahren im Gazastreifen tätig und leistet chirurgische und postoperative Hilfe für Opfer von Verbrennungen und Traumata. Seit 2018 bietet Ärzte ohne Grenzen Tausenden von Gaza-Bewohner*innen, die beim Großen Marsch der Rückkehr verletzt wurden, rekonstruktive und orthopädische Chirurgie, Physiotherapie und psychosoziale Unterstützung an.