EU-Migrationspolitik: "Wir dürfen uns nicht an die Gewalt gewöhnen."
Es ist dunkel im Wald zwischen Belarus und Polen. Ein bewusstloser Junge versinkt im Sumpf, weil eine Frau ihn nicht mehr festhalten kann. Sie steckt selbst bis zum Hals im Wasser und kann nur mit letzter Kraft nach einem Stock greifen, den ihr eine Helferin reicht. Diese Szene aus dem Film “Green Borders” von Agnieszka Holland ist ein Sinnbild der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze.
Seit Juni 2021 versuchten Tausende Menschen, von Belarus aus nach Polen oder nach Litauen und Lettland und damit in die Europäische Union (EU) einzureisen. Polen reagierte darauf mit dem Einsatz des eigenen Militärs, errichtete Grenzzäune und verhängte den Ausnahmezustand über das Grenzgebiet. Die Region wird engmaschig überwacht und der Zugang ist stark eingeschränkt, auch für Hilfsorganisationen, Freiwilligengruppen und Medien. Unsere Mitarbeitenden, die an dieser Grenze im Einsatz sind, hören immer wieder Geschichten von brutaler Gewalt und unermesslichem Leid.
In ganz Europa bis nach Nordafrika behandeln unsere Mitarbeitenden Patient*innen, deren Gesundheit durch die Abschottungspolitik der EU zu Schaden gekommen ist.
In der Falle vor den Toren Europas
Schon weit vor den Toren Europas setzen die EU und ihre Mitgliedstaaten auf Abkommen mit Drittstaaten, um Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien aus der EU fernzuhalten. Staaten wie Libyen, Tunesien und Ägypten werden zu Türstehern Europas aufgerüstet, um Menschen aufzuhalten. Schutzsuchende Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht sind, sitzen in Libyen, Niger und Tunesien in der Falle, ohne ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung und ohne Schutz vor gewalttätigen Übergriffen.
Migrant*innen in Haftzentren im libyschen Tripolis werden sexuell missbraucht, geschlagen oder sogar getötet. Sie haben keinen angemessenen Zugang zu Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Laut den Vereinten Nationen (UN) tragen die EU und Italien eine gewisse Mitverantwortung, da sie die libysche Küstenwache finanziell und mit Marinebooten unterstützen. Diese fängt mit der Hilfe der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex Boote mit Geflüchteten ab und bringt sie nach Libyen zurück. Dadurch beginnt der Teufelskreis der Gewalt von neuem.
Es ist eine Mär, dass alle Geflüchteten und Migrant*innen nach Europa gelangen wollen. Diese Mär wird oft benutzt, um harte Abschreckungspolitik zu rechtfertigen. Laut UN nehmen arme Länder deutlich mehr Geflüchtete auf, etwa 76 Prozent, als reiche Länder mit etwa 24 Prozent. Im Sudan zum Beispiel sind seit Kriegsbeginn im April 2023 4,5 Millionen Menschen geflohen. 1,2 Millionen Menschen sind in Nachbarländer wie Tschad, Ägypten, Südsudan, Äthiopien und die Zentralafrikanische Republik geflohen.
Alle zwei Stunden stirbt ein Kind. Im Laufe eines Tages sind es nach aktuellen Schätzungen insgesamt 13 Kinder.”
- unsere Ärzt*innen aus einem Camp in Nord-Darfur, Sudan
Diese humanitären Krisen brauchen dringend mehr Aufmerksamkeit. Doch der Fokus der Europäischen Staaten liegt auf dem Ausbau der Festung Europa.
Blockiert, zurückgedrängt, eingesperrt
Menschen, die EU-Grenzen in Polen, Bulgarien oder Ungarn überqueren, sterben in Wäldern und Bergen an Dehydrierung, Unterkühlung und Verletzungen, während sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen oder vor gewaltsamen Pushbacks zu fliehen. Unser Bericht zeigt, wie etwa die meterhohen Zaun- und Stacheldrahtsysteme entlang der europäischen Außengrenzen in Serbien schwere Verletzungen verursachen.
Mehr als 2.000 Menschen ertranken im zentralen Mittelmeer und in der Ägäis, weil ein Mechanismus für Such- und Rettungsmaßnahmen fehlt – und weil sie von Küstenwachen wie der libyschen in Gefahr gebracht wurden.
Eingesperrt und vernachlässigt
Gelingt es Schutzsuchenden, an den EU-Außengrenzen Asyl zu beantragen, werden sie wie Kriminelle behandelt. In gefängnisähnlichen Strukturen wie den von der EU finanzierten sogenannten „geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Zugang“ in Griechenland herrschen menschenunwürdige Bedingungen mit massiven gesundheitlichen Folgen. Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Panikattacken sind unter den Patient*innen, einschließlich Kindern, weit verbreitet. Vermeidbare ansteckende Hautkrankheiten nehmen aufgrund der schlechten hygienischen Situation und Lebensbedingungen zu.
Derzeit gibt es im Lager auf Samos keine fest angestellte Ärzt*in, so dass rund 4.000 Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung und psychologischer Betreuung haben.
Eine Reform, die Gewalt normalisiert
Die gerade auf europäischer Ebene beschlossenen Asylreformen werden die Gewalt und die damit verbundenen Verletzungen und Traumatisierungen nicht beenden. Im Gegenteil: Sie werden die Dynamik verschärfen, die zu dieser Gewalt führt. Die versuchte Abschottung der Grenzen der EU wird die Menschen zwingen, auf immer gefährlichere Routen auszuweichen, was zu noch mehr Elend und Tod führen wird.
Schmutzige Deals mit unsicheren Ländern werden Menschen an Orten festhalten, an denen ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Sicherheit bedroht sind. Die Institutionalisierung von Grenzverfahren und Inhaftierung an den Außengrenzen wird nicht nur zu weit verbreiteter Angst und Unsicherheit unter Schutzsuchenden führen, sondern auch das Recht auf Asyl untergraben. Die Reform des Europäischen Asylsystems löst keine Probleme, sondern droht Gewalt gegen Schutzsuchende zu normalisieren.
Menschlichkeit ist nicht nur oberstes Prinzip der humanitären Hilfe, sondern ein gesellschaftlicher Wert, den es zu verteidigen gilt. Dafür tragen die EU und ihre Mitgliedstaaten Verantwortung. Bei dem Bemühen, Leid zu verhindern und Not zu lindern, muss die Würde des Menschen geachtet werden. Deshalb muss die Gewalt gegen Schutzsuchende aufhören. Sie darf niemals zur Normalität werden.
Wir dürfen uns nicht an diese Gewalt gewöhnen.
EU-Migrationsbericht
Unser umfassender Report (in Englisch) macht auf die verheerenden gesundheitlichen Folgen der EU-Migrationspolitik aufmerksam.