Syrien: Wir helfen – wenn man uns lässt
Die Grenzresolution für Syrien steht erneut vor dem Aus! Wir fordern den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf, diese Resolution zu verlängern. Aktuell gibt es genau einen Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien, über den humanitäre Hilfe nach Nordwest-Syrien gelangen kann: eine Lebensader für Millionen. Wird die Resolution nicht verlängert und auch dieser Grenzübergang geschlossen, werden Millionen Syrer*innen von der so dringend notwendigen Hilfe abgeschnitten.
Die letzte Tür für Hilfe: Bab al-Hawa
Die Vereinten Nationen einigten sich 2014 auf eine Grenzresolution. Diese erlaubt es der UNO und Nichtregierungsorganisationen, wichtige Hilfsgüter auch ohne die Zustimmung der syrischen Regierung über bestimmte Grenzübergänge in diejenigen Teile Syriens zu bringen, die nicht von der Regierung in Damaskus kontrolliert werden. Darüber hinaus ermöglicht es die Resolution Nichtregierungsorganisationen, Mittel für humanitäre Hilfe in dieser Region zu erhalten. Seither wurde bereits mehrfach neu über die Verlängerung der Resolution beraten und seit Juli 2020 ist Bab al-Hawa der einzige offene Grenzübergang im Nordwesten Syriens und ohne erneute Verlängerung am 10. Juli 2022 läuft die Resolution aus.
Die Konsequenzen für die Menschen in Nordwest-Syrien und unsere Arbeit wären verheerend:
Konsequenz 1: Leben unter schwierigen Bedingungen
Die humanitäre Situation in Syrien ist nach elf Jahren Bürgerkrieg erschreckend. Die Mehrheit der 4,4 Millionen Einwohner in Nordwest-Syrien ist stark auf humanitäre Hilfe angewiesen. 80 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Gewalt, Vertreibung und steigende Preise für Grundgüter machen ihr Leben zu einem alltäglichen Kampf. 70 Prozent dieser Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Die Mehrheit von ihnen lebt in Camps unter sehr schlechten Lebensbedingungen und hat nur mangelnden Zugang zu psychologsicher und medizinischer Betreuung.
Für sie ist die humanitäre Hilfe, die dank der Resolution ins Land gelangt, existenziell wichtig: grundlegende Hilfsgüter wie Lebensmittel, Chloride zur Herstellung sauberen Wassers und medizinische Hilfe erreichen ausschließlich auf diesem Weg 2,4 Millionen Menschen. Wird die Resolution nicht verlängert, wird sich die Lage der Menschen in Nordwest-Syrien extrem verschlechtern.
Konsequenz 2: Hürden statt Hilfe
Der Grenzübergang Bab al-Hawa ist der einzige und nach wie vor der schnellste, effektivste, transparenteste und kostengünstigste Weg, um humanitäre Hilfe in den Nordwesten Syriens zu bringen und deshalb für unsere Arbeit extrem wichtig.
Unsere Teams sind seit 2011 in Syrien präsent. Seit Ende 2020 sind wir zunehmend auf Transporte angewiesen, die auf diesem Weg in den Nordwesten des Landes gelangen. Nur so erreichen unsere lebenswichtigen medizinischen Hilfsgüter die Patient*innen.
Müssten wir auf kommerzielle Kanäle wechseln, könnten wir unsere Patient*innen nicht wie bisher und zum Teil auch gar nicht versorgen. Einige medizinische Artikel, wie Impfstoffe, Tuberkulosemedikamente oder Psychopharmaka, die wir aktuell über Bab al-Hawa aus unseren eigenen Beständen in unsere syrischen Projekte bringen, müssten wir dann auf dem türkischen Markt erwerben und ins Land einführen. Sie sind aber nicht immer so verfügbar, wie wir sie brauchen oder unterliegen schwierigen Zollbeschränkungen. Darüber hinaus könnten wir unsere wichtigen Qualitätsstandards, insbesondere für medizinische Artikel und Medikamente, nicht halten - im Nordwesten Syriens, sind bestimmte Medikamente einfach nicht erhältlich.
Konsequenz 3: Wir allein können nicht allen helfen
Die meisten internationalen und lokalen humanitären Organisationen, die im Nordwesten Syriens arbeiten, sind auf gebündelte Mittel angewiesen, die über UN-Mechanismen bereitgestellt werden, die wiederum an die UN-Resolution gebunden sind. Wird die Resolution nicht verlängert, stehen diese Akteure plötzlich auf unsicherem Boden.
Wir bei Ärzte ohne Grenzen arbeiten zwar unabhängig von Regierungsgeldern sowie Finanzierungsmechanismen der UN. Nichtsdestotrotz beeinflusst es auch unsere Arbeit, wenn die internationale Finanzierung für humanitäre Hilfe in einer Region stark abnimmt. Letztes Jahr beispielsweise haben viele Organisationen - weil ihre Finanzierung von internationalen Geldgebern stark gekürzt wurde - ihre Wasserlieferungen an Vertriebenencamps in Nordwest-Syrien eingestellt. Wissen Sie, was passiert, wenn es in diesen Camps kein Wasser mehr gibt? Abgesehen vom Offensichtlichen, breiten sich Krankheiten wie Cholera, Durchfall oder Krätze sehr schnell aus.
Wir haben unsere Aktivitäten in diesem Bereich also weiter ausgebaut. Das ist aber nicht genug – zumal die Bedürfnisse bereits jetzt größer sind als die Hilfe, die wir als Nichtregierungsorganisationen leisten können.
Prinzipienorientierte Hilfe muss möglich sein!
Das politische Tauziehen um diesen Grenzübergang zeigt vor allem eins: Immer dann, wenn humanitäre Hilfe politischen Erwägungen unterworfen wird, immer dann, wenn humanitär helfenden Organisationen der Zugang verweigert oder erschwert wird, immer dann zahlen insbesondere die verwundbarsten Menschen in einer Gesellschaft den Preis dafür.
Als humanitäre Organisation ist unser Hauptziel simpel: Leben retten, Leiden lindern. Einfach zu erreichen ist dieses Ziel jedoch nicht. Schon gar nicht, wenn wir derart an der Ausübung unserer Arbeit gehindert werden. Deshalb appelliere ich an alle Geberländer, insbesondere auch die deutsche Regierung als einen der größten Geber für diesen Kontext, unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen: Lassen Sie die Menschen im Nordwesten Syriens nicht im Stich!