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Die einzige Chance ist das Gegengift

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Marco Alves

Marco Alves

Ich koordiniere die Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen. In meiner Arbeit setzte ich mich insbesondere für den gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten ein.

Workey Mekonen ist 24 Jahre alt, Witwe und Mutter von 4 Kindern. Jedes Jahr reist sie zur Erntezeit in den Norden Äthiopiens, um dort für andere Wanderarbeiter zu kochen. Weil sie es sich nicht leisten kann, für eine Unterkunft zu bezahlen, schläft Workey draußen im Hirsefeld. Eines nachts spürt sie einen stechenden Schmerz im Gesicht, als sie hochschreckt sieht sie gerade noch eine Schlange im hohen Gras verschwinden. Ihr Gesicht beginnt anzuschwellen und ihre Hände werden taub. Workey schafft es zu einer nahegelegenen Klinik, obwohl sie mittlerweile nichts mehr sieht. Dort hat man zum Glück das richtige Gegengift! Bereits nach fünf Tagen kann sie die Klinik verlassen.

So glimpflich verlaufen derartige Begegnungen nicht immer. Rund 2,7 Millionen Menschen werden jährlich von Giftschlangen gebissen. 100.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen der Vergiftung [1]. Und in bis zu 400.000 Fällen müssen Gliedmaßen amputiert werden oder die Gebissenen leiden in der Folge an körperliche Beeinträchtigungen und Entstellungen [2].

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Die kleine Jepngok Kiptui spielt mit ihren Hühnern
Jepngok Kiptui war gerade drei Jahre alt, als sie von einer Schlange gebissen wurde. Sie musste drei Operationen über sich ergehen lassen und, damals Linkshänderin, musste lernen, die andere Hand zu benutzen, da ihre linke Hand nach dem Biss entstellt war.
© Paul Odongo/MSF

Jepngok Kiptui war gerade drei Jahre alt, als sie von einer Schlange gebissen wurde. Sie musste drei Operationen über sich ergehen lassen und, damals Linkshänderin, musste lernen, die andere Hand zu benutzen, da ihre linke Hand nach dem Biss entstellt

Für jedes Gift ein Gegengift … ?

Schlangengift enthält Toxine, die schwere Blutungen verursachen können. Es kann Gewebe zerstören, Muskeln und Nerven schädigen, die Atmung lähmen und zum Tod führen.

Weltweit gibt es in rund 160 Ländern Giftschlangen, besonders in ländlichen Gebieten tropischer und subtropischer Länder in Afrika, dem Mittleren Osten, Asien, Ozeanien und Lateinamerika.

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Die Amhara Region im Norden von Äthiopien ist geprägt von Landwirtschaft.
Auf den weiten landwirtschaftlichen Flächen Amharas. Unser Schwerpunkt in der nördlichen Region Äthiopiens liegt auf der Behandlung, Diagnose und Prävention von Kala Azar und Schlangenbissen – gleich zwei vernachlässigten Tropenkrankheiten.
© Susanne Doettling/MSF

Vor allem die Ärmsten der Armen sind betroffen: Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, sich ihre Schlafstätten mit Vieh teilen oder in ihren Häusern Futtermittel lagern müssen, was Schlangen anlockt.

Wird man von einer giftigen Schlange gebissen, ist oft die einzige Chance auf Überleben und Heilung das richtige Gegengift. Dieses neutralisiert die Toxine und macht die Vergiftung rückgängig. Ganz einfach also: Für jedes Gift ein Gegengift? - Leider ist die Sache kompliziert. Die Schlangengifte sind sehr verschieden – entsprechend ist ein Gegengift, das beispielsweise gegen das Gift einer Kobra hilft, beim Biss einer Puffotter unbrauchbar.

Die wirkungsvollen Gegengifte, sogenannte Antivenine, sind oft teuer und dort, wo sie wirklich benötigt werden, nicht verfügbar. Wegen der hohen Preise greifen Patient*innen oft zu günstigeren Produkten. Diese sind zum Teil jedoch nicht wirksam oder sogar selbst giftig.

Schlangenbisse sind die größte öffentliche Gesundheitskrise, von der Sie noch nie gehört haben.

Das sagte der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan 2018 und benannte damit eine Tatsache, die wir in unserer Arbeit täglich erleben. Bitter ist dabei vor allem, dass diese Krise auch das Ergebnis von wirtschaftlichen Entscheidungen ist. Der Markt ist für Firmen wenig lukrativ. So wurde etwa die Produktion von Fav-Afrique, einem Präparat, das gegen das Gift von zehn afrikanischen Giftschlangen wirkt, 2015 eingestellt. Es rechnete sich nicht für das Unternehmen. Ohne Konkurrenz und Massenproduktion bleiben die Preise hoch.

Vernachlässigte Krankheiten

Die Weltgesundheitsorganisation hat Schlangenbisse 2017 in die offizielle Liste der „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ aufgenommen. Neben den Schlangenbissen, gehören dazu unter anderem auch die Flussblindheit, Dengue-Fieber, die Schlafkrankheit, Noma oder Lepra. Diese Krankheiten betreffen hauptsächlich Menschen in armen Ländern. So wie bei Schlangengiften die Antiseren fehlen adäquate Behandlungsmöglichkeiten in Form von Impfstoffen, Diagnostika oder Medikamenten für diese Krankheiten.

Der Grund: Profit. Die Betroffenen haben eine geringe Kaufkraft und die Gesundheitssysteme sind oft unterfinanziert. Sie bilden aus Sicht der Industrie keinen lukrativen Absatzmarkt und bieten somit kaum kommerzielle Forschungsanreize.

Man spricht hier von einem Marktversagen, da Forschung sich an hohen Gewinnaussichten orientiert und nicht am medizinischen Bedarf der Menschen weltweit.

In der Konsequenz leiden Millionen Menschen weltweit, weil es brauchbare Impfstoffe, Diagnostika und Medikamente, die sie benötigen, kaum gibt oder diese nicht entwickelt werden.

Gesundheit unabhängig vom Markt!

Vernachlässigte Krankheiten sind für 11 Prozent der globalen Krankheiten verantwortlich. Zwischen 2000 und 2011 wurden 336 Wirkstoffe zugelassen – vier davon (!) für vernachlässigte Krankheiten [3]. Das ist ein Missverhältnis um den Faktor zehn [4].

Zusätzlich verhindern Patente auf vorhandene und neue Medikamente sowie auf andere Medizinprodukte den Zugang zu diesen, da sie für ärmere Länder oft nicht bezahlbar sind.

Die deutsche Bundesregierung als einer der größten bilateralen humanitären Geber weltweit und selbsterklärter Champion der globalen Gesundheit steht hier besonders in der Verantwortung. Sie muss politisch handeln, um ein langfristiges Ziel zu erreichen: Die Verringerung des Risikos, unter einer vernachlässigten Krankheit zu leiden und zu sterben. Notwendige Forschung muss auch dann passieren, wenn es wenig Aussicht auf hohe Gewinne gibt - und die entwickelten Präparate müssen für alle Menschen bezahlbar und zugänglich sein.

 

[1] WHO: Snakebite Envenoming. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/snakebite-envenoming (abgerufen am 24.04.2019).

[2] WHO: What is Snakebite Venoming https://www.who.int/snakebites/disease/en/ (abgerufen am 15.04.2019).

[3] Pedrique et al. (2013): The drug and vaccine landscape for neglected diseases (2000-2011): a systematic assessment. The Lancet. 1.6) e371–e379.

[4] ibid.