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Im Krieg stirbt auch die letzte Würde

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Philipp Frisch

Philipp Frisch

Ich leite die politische Abteilung von Ärzte ohne Grenzen. Teil der Organisation bin ich seit 2009. Zusätzlich zu meiner Arbeit in Berlin, war ich in Simbabwe, Swasiland, Tigray und der Ukraine als Humanitarian Affairs Advisor im Einsatz.

Seltene Einblicke in den Alltag von Menschen, deren Leben sich über Nacht verändert hat: Wenn ein leerer Magen plötzlich die Einnahme von lebenswichtigen Medikamenten unmöglich macht oder wenn die Monatsblutung kommt und Hygieneartikel sowie Wechselkleidung fehlen. Oder wenn Regeln, die über Generationen hinweg galten, plötzlich wertlos sind. Unsere Teams leisten wertvolle medizinische Hilfe in Tigray. Trotzdem ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Die Menschen vor Ort brauchen dringend Zugang zu flächendeckender medizinischer Versorgung.

Der alte Mann wirkte vor allem überrascht. Nicht so sehr wütend oder verzweifelt, wie es in dieser Situation vielleicht zu erwarten gewesen wäre, sondern eher überrascht. Er sitzt zwischen einigen improvisierten Zelten, Gepäck in großen Plastiktüten und leeren Plastikflaschen auf einem Stein und stützt sich leicht auf seinen Holzstock. „Ich bin ein Ältester in dieser Gemeinschaft. Ich lebe hier seit 25 Jahren.“ All das zählte nicht, als er über Nacht sein Haus räumen und den Großteil seines Hab und Gut zurücklassen musste.

Dieses Mal ist alles anders

Wir sind in Abdurafi in Äthiopien, einer kleinen Stadt an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Amhara und Tigray und dem Sudan. Unsere Teams betreiben hier seit 17 Jahren ein Projekt zur Behandlung der Tropenkrankheit Kala Azar und von Schlangenbissen – davon sind insbesondere die wandernden Saisonarbeiter betroffen, die jeweils zu den arbeitsintensiven Erntephasen die Bewohnerschaft der kleinen Stadt um ein Vielfaches anschwellen lassen. Doch dieses Mal ist alles anders. In der benachbarten Region Tigray herrscht Krieg.

15 Minuten Fußweg verändern eine ganze Existenz

All das weiß der alte Mann natürlich – er scheint nur immer noch nicht richtig nachvollziehen zu können, warum das sein Leben komplett auf dem Kopf stellt. „Sie kamen abends und haben mich bedroht. Sie haben gesagt, dass ich mein Haus verlassen müsse und hier „nicht mehr sicher“ sei. Zunächst habe ich sie nicht ernst genommen. Ich war ja geschützt – jeder kennt und respektiert mich hier. Aber das scheint nicht mehr zu zählen.“ Jetzt schläft er in einem Zelt auf dem nackten Boden, keine 15 Minuten zu Fuß von seinem Haus, und weiß nicht weiter. In seinem Haus wohnen längst diejenigen, die ihn vertrieben haben. Wie so oft in solchen Situationen haben Zivilist*innen nichts zu gewinnen, nur alles zu verlieren.

Monatsblutung bringt Frauen in Bedrängnis

Ortswechsel, 200km nordwestlich. Eine Gruppe junger Frauen in der Stadt Shire beschwert sich. Nicht allzu direkt, denn das Thema ist tabuisiert und unangenehm. Ich brauche eine Weile, bis ich verstehe: Weil sie mit nur einem Satz an Kleidung fliehen konnten, als der Krieg über Nacht in ihr Dorf kam, haben sie Schwierigkeiten während der Monatsblutung. Hygieneprodukte sind schwer zu bekommen. Und weil sie keine Wechselkleidung haben, ist es schwer, die verschmutze Kleidung zu waschen. Im Krieg stirbt auch die Würde.

Einzig mögliche Privatsphäre: ein Moskitonetz

Die meisten der Geflüchteten in Shire haben sich auf dem Gelände der Universität und in verschiedenen Schulen in der Stadt eingerichtet. Mindestens 35.000 Menschen leben in informellen Camps. Jeden Tag werden es mehr. Viele dieser Bildungseinrichtungen waren ohnehin noch wegen der Sars-Cov2-Pandemie geschlossen. Jetzt sind sie es aufgrund des Krieges und der vielen Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Schutz. Familien versuchen sich in Rohbauten einigermaßen geschützte Schlafstellen einzurichten und nutzen Moskitonetze als Trennvorhänge. Ein klein wenig Privatsphäre. Andere richten sich so gut es geht in ehemaligen Klassenzimmern oder in Schlafsälen ein.

Die Nebenwirkungen auf einen leeren Magen sind zu stark

„Meine Kinder weinen jede Nacht. Sie haben Hunger und schlafen nicht richtig.“ So oder ähnlich beschrieben die meisten Menschen in der Universität in Shire ihren Alltag.

Ein schlaksiger Mann um die 40 zeigt seine Tabletten: „Das sind ARVs “, sagt er, anti-retrovirale Medikament zur Behandlung der Immunschwächekrankheit HIV/Aids. Er habe die lebensrettenden Tabletten, aber er nimmt sie nicht. Warum? „Weil die Nebenwirkungen auf leeren Magen einfach zu stark sind.“ Hunger bestimmt mittlerweile den Tagesablauf der Menschen und andere Dinge treten in den Hintergrund. „Ich halte das nicht aus. Dann nehme ich sie lieber nicht.“

Mit präzisem Aufwand unbrauchbar gemacht

Die Situation in den umliegenden Gesundheitsstationen ist ebenfalls desolat: es knirscht bei jedem Schritt. Der Boden liegt voller Glasscherben, Medikamente, Spritzen, Patient*innen-Akten. An die Wand sind Hassbotschaften geschmiert. Eigentlich war die Region eine der fortschrittlichsten im Gesundheitsbereich. Nun sind dreiviertel der Einrichtungen geplündert oder wurden vandalisiert. Jemand hat sich viel Mühe gegeben, um sicherzustellen, dass dort keine Patient*innen mehr versorgt werden können. Im Osten des Landes berichten die Kolleg*innen außerdem, dass medizinische Großgeräte mit präzisem Aufwand so zerstört wurden, dass sie vollständig unbrauchbar sind. Eine gezielte Kampagne gegen das Gesundheitssystem.

Ein Tropfen auf den heißen Stein oder wertvolle Hilfe für Einzelne?

Die Kehrseite dieser Kampagne: Hunderte Menschen sind gekommen, um die medizinischen Dienste unserer kleinen mobilen Klinik in Anspruch zu nehmen. Sie warten geduldig, aber angespannt. Auf den ersten Blick ist klar: von den mehr als 500 Menschen können unsere Mediziner*innen allerhöchstens 80-100 behandeln. Die Zeit reicht nicht für mehr, denn es herrscht eine militärische Ausgangssperre. Das Team muss abends pünktlich wieder in Shire sein. Die Lösung: eine leider nicht zu vermeidende Triage, um die kränksten Menschen zu identifizieren, die, die am dringendsten Hilfe brauchen. Die anderen müssen warten, bis wir nächste Woche wiederkommen. Vor allem nachmittags macht sich Verzweiflung bei denen breit, die keinen kleinen Zettel bekommen haben.

Es sind schlimme Momente, in denen klar wird: wir kratzen hier nur an der Oberfläche und es reicht hinten und vorne nicht. Und doch ist klar: an diesem Tag haben die Mediziner*innen viele Leben gerettet. Auf dem Weg zurück herrschen trotzdem gemischte Gefühle.

Über das Erlebte sprechen bringt ein Stück Würde zurück

Auch Zivilist*innen werden immer wieder und wiederholt Ziel von gewalttätigen Übergriffen durch bewaffnete Gruppen. Viele Menschen haben zu große Angst zu sprechen. Manche jedoch wollen genau das: sprechen und beschreiben, was passiert ist. Wenigstens irgendjemand soll Interesse zeigen an ihrem Schicksal. Auch das gehört zur menschlichen Würde. Die Geschichten erzählen von Verstümmelung, Folter, Vergewaltigung – Geschichten, die zu entsetzlich sind, als dass man sie einfach so aufschreiben könnte. Die Frage der Verantwortung steht im Raum, aber: Polizei, Justiz, eine funktionierende zivile Verwaltung – all das haben die Kämpfe weggefegt.

Einen wertvollen Minimalstandard an Menschlichkeit zu verteidigen ist unsere Pflicht

Der humanitären Hilfe bleibt derweil nur, die Symptome zu behandeln: Leben retten und Leiden lindern. Was nach wenig klingt, ist doch viel und manchmal alles, was den Menschen bleibt. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache trifft einen in solchen Situationen mit voller Wucht. Die Menschen in der Region Tigray leiden unter einer Situation, in der die Hilfe der humanitären Organisationen nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt. Unsere einzige Chance ist es, die schlimmsten Auswirkungen zu lindern. Einen Minimalstandard an Menschlichkeit zu verteidigen. Bei weitem nicht genug, und doch unendlich wertvoll.